Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Mychajlo Zubrytskyj: Zibrani tvory y materialy u troch tomach – Collected Works and Materials in Three Volumes. Tom 1: Naukovi praci – Volume 1: Scholarly Works. Ed. by Frank E. Sysyn. Lviv: Litopys, 2013. 609 S., Tab., Abb. ISBN: 978-966-8853-29-6.

Der Prozess der Nationsbildung läuft bekanntlich auf verschiedenen Ebenen ab. Im Falle der Ukrainer des habsburgischen Galizien kam der griechisch-katholischen Dorfgeistlichkeit neben den intellektuellen Kapazitäten der Landeshauptstadt Lemberg und der kleineren Provinzstädte hierbei eine herausragende Bedeutung zu.

Mychajlo Zubryc’kyj war ein solcher für seine Generation typischer „populistischer“ Dorfgeistlicher. Er wurde 1856 in eine bäuerliche Notablenfamilie des Bojken-Dorfs Kindrativ etwa 50 Kilometer südwestlich von Drohobyč geboren. Den größten Teil seines Lebens († 1919) verbrachte er als Priester in Mšanec (1883–1914), einer Ortschaft ungefähr 40 Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, die heute nahe der ukrainisch-polnischen Grenze liegt. Sein geographischer Horizont beschränkte sich also auf den relativ kleinen Lebensraum der von den Bojken bewohnten Karpaten-Vorgebirgslandschaft im äußersten Südwesten der heutigen Ukraine, einzig durchbrochen von gelegentlichen Reisen nach Lemberg oder Przemyśl und von einem Kuraufenthalt in Karlsbad.

Der geistige Horizont von Zubryc’kyj war jedoch wesentlich weiter. Sein Vater, ein Bauer, der weder schreiben noch lesen konnte und sich dafür schämte, sorgte für die Schulbildung seines Sohnes. Das führte diesen ans Gymnasium in Drohobyč und schließlich an das griechisch-theologische Seminar in Lemberg und die dortige Uni­versität. Während seiner Ausbildungsjahre scheint Zubryckyj sowohl Werke der europäischen Geschichtsschreibung seiner Zeit wie auch Schriften und Publikationen der verschiedenen „nationalen“ Bewegungen, die sich mit der Identitätsbildung der Ruthenen Galiziens beschäftigten, förmlich in sich aufgesogen zu haben.

Er selbst entwickelte sich dabei zu einem ukrainophilen, populistischen Volksaufklärer. Er sammelte und publizierte neben verschiedenen Abhandlungen in erster Linie (transkribiertes) Quellenmaterial zur Geschichte, Ethnographie und Folklore der Region, in der er als Priester wirkte. Er betrieb zu diesem Zweck auch Oral history avant la lettre. Zugleich gründete er in seiner Gemeinde – wie viele andere Geistliche auch – einen Leseraum und eine Kooperative und trug auf diesem Weg zur (nationalen) Bewusstseinsbildung der lokalen Bauernbevölkerung bei.

Dank seiner regen historischen und volkskundlichen Forschungs- und Publikationstätigkeit, die die Lebens- und Glaubenswelt der Bauern zum Gegenstand hatte, wurde Zubryc’kyj auch als Vollmitglied der in Lemberg domizilierten Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften aufgenommen. Dies kam einer Erhebung in das damalige Pantheon der ukrainischen Wissenschaftsgemeinde gleich. Wie ein Meinungsaustausch mit Ivan Franko, dem intellektuellen „Propheten“ der nationalen ukrainischen Bewegung in Galizien zeigt, suchte Zubryc’kyj bei seinem Wirken die bewahrend-dokumentierende Nähe zum Volk und verstand sich in erster Linie als ukrainischer Volksaufklärer. Er sprach sich im Rahmen der Ševčenko-Gesellschaft dezidiert für die „Popularisierung“ der Erkenntnisse der Wissenschaft unter den breiten Volksmassen aus im Sinne einer utilitaristischen „Wis­sen­schaft für das Leben“ (S. 260). Demgegenüber setzten sich die Lemberger Intellektuellen um Franko über das rein ethnographisch-volkskundliche Interesse hinaus die Heranbildung einer vollwertigen ukrainischen Nation zum eminent politischen Ziel. Zu einer kulturell hochstehenden und aufgeklärten Nation aber gehörte nach Franko eine Wissenschaft per se. Denn diese entschied darüber, „ob und in welchem Maße eine Nation eine Stimme hat im Chor der Kultur-Nationen“ (S. 266–267).

Frank Sysyn bezeichnet und bewertet vor diesem Hintergrund Mychajlo Zubryc’kyj in seinem einleitenden biographischen Essay als „Nestor des ukrainischen Dorfes“. Dass dessen gesammelte Werke nun bald beispielhaft für die Bemühungen eines gelehrten ukrainischen Dorfgeistlichen vorliegen werden, ist deshalb zu begrüßen.

Bei einer wissenschaftlichen Edition würde man gemeinhin erwarten, dass die abgedruckten Werke in ihr zeitgenössisches Umfeld eingeordnet und in ihrer Bedeutung kommentiert würden. Dies geschieht, allerdings eben nur recht summarisch, in der ausführlichen Einleitung des Herausgebers des Bandes Frank Sysyn. Ebenso wird man erläuternde Anmerkungen und Kommentare zu einzelnen Textstellen und Aussagen Zubryc’kyjs vergebens suchen. Hilfreich sind dagegen das Personen- und das geographische Register, während ein Sachregister fehlt.

Der erste der auf insgesamt drei Bände angelegten Edition hat die wissenschaftlichen Veröffentlichungen Zubryc’kyjs zum Gegenstand. Diese sind zu einem guten Teil in der Schriftenreihe der Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften erstmalig gedruckt worden und damit eigentlich nicht allzu schwer zugänglich. Unter diesem Aspekt dürften Band 2 (Autobiographie, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe etc.) und Band 3 (Zeitungsartikel) wesentlich mehr schwer greifbares und unbekanntes Material zutage bringen.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Mychajlo Zubryts’kyj: Zibrani tvory y materialy u tr’och tomach – Collected Works and Materials in Three Volumes. Tom 1: Naukovi praci – Volume 1: Scholarly Works. Ed. by Frank E. Sysyn. L’viv: Litopys, 2013. 609 S., Tab., Abb. ISBN: 978-966-8853-29-6., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Zubrytskyi_Zibrani_tvory_y_materialy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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