Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Christophe von Werdt
Andriy Zayarnyuk: Framing the Ukrainian Peasantry in Habsburg Galicia, 1846–1914. Edmonton, AB, Toronto, ON: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2013. XXXII, 448 S., 2 Ktn., 4 Tab. ISBN: 978-1-894865-30-2.
Auf den ersten Blick macht der Titel der Monographie stutzig – konkret der Begriff der „Rahmung“ (framing), der mit einer historischen Fotografie einer Bauernversammlung auf dem Umschlag illustriert wird. Doch ist die Metapher durchaus passend, geht es Zayarnyuk doch um die diskursiven Bilder, die von der ukrainischen Bauernschaft Galiziens entworfen wurden und auf die Konstruktion ihrer sozialen, politischen und nationalen Identitäten zurückwirkten. Der Autor macht für seine Fragestellungen drei Quellencorpora fruchtbar: Werke von Intellektuellen zur Bauernfrage; Zeitungsartikel, Broschüren, populäre Literatur usw., die an die Bauernschaft gerichtet waren; und schließlich auch Zeugnisse von Bauern selbst. Die große Menge an Primärquellen, die Zayarnyuk beibringt und auf die er seine Studie weitestgehend abstützt, ist dabei wohltuend und stupend.
Geographisch beschränkt er sich, zumindest was die Auswertung von Archivquellen angeht, auf die zwei repräsentativen Distrikte von Sambir und Staryj Sambir im westlichen Teil Ostgaliziens. Tatsächlich tut jedoch diese geographische Engführung der generellen Aussagekraft seiner Studie keinen Abbruch.
Zayarnyuk zeichnet anhand verschiedener zentraler Zeitschnitte nach, wie einerseits die ruthenischen Bauern und der ruthenische bäuerliche Kleinadel Objekte der Diskurse einer intellektuellen und politischen Elite rund um die Entwicklung der ruthenischen Gesellschaft Galiziens wurden. Zugleich macht er anderseits sichtbar, wie Vertreter der genannten sozial-religiösen Gruppen von Beginn weg auch als selbständige Subjekte dieser Diskurse auftraten.
Seine Darlegungen beginnt der Autor mit dem Aufstand des Jahres 1846: Er kommt zum Schluss, dass erst das polnische, national orientierte Schrifttum aus der Zeit nach dem Aufstand die ruthenischen Bauern zum „nationalen“, österreichfreundlichen Gegenspieler und zu „Verrätern“ des polnischen Aufstands stilisierte. Zayarnyuk weist dabei nach, dass die ruthenische Bauernschicht dem Aufstand sehr zurückhaltend gegenüberstand und dass die ethnisch-religiösen Unterschiede den sozialen Antagonismus im Vergleich zum westlichen Galizien nicht stärker akzentuierten.
In einem zweiten Abschnitt wird untersucht, wie die Revolution des Jahres 1848 und der ruthenische Diskurs das Verhältnis von Bauern und Nation thematisierten. Eine überraschende Erkenntnis dabei: Die Versammlungen der von der griechisch-katholischen Geistlichkeit angeführten regionalen ruthenischen Räte fanden bei den ruthenischen Bauern nicht mehr Zulauf als jene der polnischen Seite – die Interaktion zwischen den Bauern und der ruthenischen Bewegung sei vielmehr „zufällig“ gewesen (S. 54). Den Grund dafür sieht Zayarnyuk darin, dass die soziale Note des polnischen revolutionären Diskurses die (ruthenischen) Bauern mehr angesprochen habe als der auf die Nation konzentrierte der ruthenischen griechisch-katholischen Geistlichkeit. Die Bewegung der Letzteren versuchte sich recht eigentlich vom bäuerlichen Etikett, das ihr anhaftete, zu distanzieren, weil es nach dem gängigen liberalen Staatsbürgerverständnis nicht zu einer modernen Nation passte.
Ein ausführliches Kapitel ist anschließend der Auseinandersetzung um die althergebrachten bäuerlichen Gemeinderechte an der Nutzung von Allmenden und Wäldern (Servitute) gewidmet. Nach gängiger Lesart führte dies zu den heftigsten, gewalttätigsten Konflikten im Anschluss an die Emanzipation der Bauern in Galizien. Diese Interpretation fügt sich auch nahtlos in den Traditionsstrang der national-ukrainischen Historiographie ein, die von einem jahrhundertelangen Kampf zwischen den polnischen Gutsherren und den ukrainischen Bauern ausgeht. Zayarnyuk fördert auch hier eine komplexere Realität zutage, die mit dem ungleichmäßigen Vordringen liberaler Freiheits- und Eigentumsideen in der Gesellschaft Galiziens verbunden war. Er zeigt, wie die bäuerlichen Gemeinden vor dem Hintergrund des Vormarsches der neuen Vorstellungen von Eigentum teilweise selbst die Privatisierung des Gemeindelandes und der Gemeindewälder vorantrieben. Auch der Diskurs auf der politischen Ebene war allseitig so stark von der liberalen Idee des Privateigentums durchdrungen, dass sogar die ruthenischen Abgeordneten im galizischen Landtag sich nicht für die Servitutsrechte der ruthenischen Bauerngemeinden einsetzten. Die Distanz zwischen der ruthenischen intellektuellen Elite und ihrer nationalen Zielgruppe, den Bauern, wuchs dadurch in den 1860er Jahren nur zusätzlich an.
In den weiteren Kapiteln zeichnet der Autor Phänomene nach, die aus der existierenden Forschungsliteratur grundsätzlich bekannt sind. Allerdings interpretiert sie Zayarnyuk erfrischend gegenläufig zum lange vorherrschenden Mainstream der ukrainischen, teleologisch national ausgerichteten Historiographie. Er erweist sich hier als Schüler der Lemberger Historiker-Schule um Jaroslav Hrycak. So stellt er dar, wie sich ab den 1860er Jahren der „paternalistische Populismus“ der russo- und ukrainophilen Geistlichkeit entwickelte. Beide Parteien versuchten das grundsätzliche Misstrauen der ruthenischen Bauernschaft zu überwinden, diese aufzuklären und in ihre jeweiligen Nationsbildungsprojekte einzubinden und deren elitären Charakter abzustreifen. Die russophile Bewegung hatte dabei nach Einschätzung von Zayarnyuk ursprünglich eine bessere Basis auf dem ruthenischen Dorf. Viele der involvierten Geistlichen entstammten erstmals der Bauernschaft, nachdem die Familien aktiv in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren begonnen hatten.
Ab den 1880er Jahren brachten sich die ruthenischen Bauern über Beiträge, die sie an die einschlägigen Periodika richteten, selbst aktiv in den Diskurs über die Entwicklung der lokalen ruthenischen Gesellschaft ein: Im Buch werden die zahlreichen Verlautbarungen des Bauern Ivan Mychas genauer analysiert. Die dörflichen vernetzten sich zugleich immer mehr mit den städtischen national-populistischen Eliten, wodurch die Rolle der Geistlichkeit in den Hintergrund trat. Die bäuerlichen Aktivisten sahen sich aber von polnischer Seite her dem Vorwurf des Sozialismus ausgesetzt. Zayarnyuk deutet dies alles als eine Auseinandersetzung zwischen bäuerlichen liberalen Reformisten und dem konservativen Klerus. Was aus diesem Diskurs und dem Netzwerk von freiwilligen Zusammenschlüssen und Einrichtungen auf dem Dorf (Leseklubs, Kooperativen usw.) hervorging, war einerseits eine „nationale Öffentlichkeit“ (S. 211); diese vereinte erstmals ruthenische Bauern und die städtische Intelligenz diskursiv. Anderseits unterlag letztendlich die russophile Option, weil sie im Gegensatz zur liberal-reformistischen ukrainophilen, die auf Veränderung drängte, konservativ ausgerichtet war.
Sicherlich eines der interessantesten Resultate von Zayarnyuks quellengesättigter Studie ist die Erkenntnis, dass die ruthenisch-ukrainischen Bauern Galiziens keine unselbständige ‚Manövriermasse‘ der verschiedenen politischen und nationalen Bewegungen waren, die das habsburgische Kronland während der Untersuchungszeit prägten. Sie treten dank der Studie vielmehr als eigenständige Akteure hervor, die in die verschiedenen gesellschaftlichen Diskurse einbezogen und durch diese auch geformt wurden. Sie bewiesen sehr viel Widerständigkeit und ließen sich von den verschiedenen intellektuellen Nationsbildungsprojekten nicht einfach vereinnahmen, sondern prägten den Diskurs aktiv mit.
Zitierweise: Christophe von Werdt über: Andriy Zayarnyuk: Framing the Ukrainian Peasantry in Habsburg Galicia, 1846–1914. Edmonton, AB, Toronto, ON: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2013. XXXII, 448 S., 2 Ktn., 4 Tab. ISBN: 978-1-894865-30-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Zayarnyuk_Framing_the_Ukrainian_Peasantry.html (Datum des Seitenbesuchs)
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