Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Christophe von Werdt
Julija Ė. Šustova: Dokumenty L’vovskogo Uspenskogo Stavropigijskogo bratstva (1586–1788). Istočnikovedčeskoe issledovanie [Dokumente der Lemberger Stauropegialbruderschaft (1586–1788). Eine quellenkundliche Untersuchung]. Moskva: Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi, 2009. 647 S., Abb., Graph., Tab. = Rossija i Christianskij Vostok. Biblioteka, 8. ISBN: 978-5-9551-0334-1.
Grundsätzlich mag es übertrieben erscheinen, einer „sozio-kulturellen“ Einrichtung wie der Lemberger Bruderschaft eine quellenkundliche Studie von über 600 Seiten Umfang zu widmen. Denn Monographien jüngeren Datums, die sich der Geschichte dieser Institution widmen – nicht ‚nur‘ der Geschichte und Analyse ihrer Quellen – fallen hinsichtlich ihres Umfangs geringer aus. (Vgl. Iaroslav D. Isaievych: Voluntary brotherhood. Confraternities of Laymen in Early Modern Ukraine. Edmonton, Toronto 2006. = The Peter Jacyk Centre for Ukrainian Historical Research monograph series 2; Iryna V. Orlevyč: Stavropihijs’kyj Instytut u L’vovi. Kinec’ XVIII – 60-i rr. XIX. st. L’viv 2001.)
Šustova rechtfertigt ihre Studie mit verschiedenen Überlegungen. In einer etwas anderen Gewichtung, als die Autorin sie vornimmt, spricht für die vorliegende Untersuchung aus Sicht des Rezensenten in erster Linie, dass im Fall der Lemberger Stauropegialbruderschaft beziehungsweise ihrer Nachfolgerin, des Stauropegial-Instituts, ein Quellenkorpus vorliegt, das den Zeitraum von rund 350 Jahren (1586–1939) abdeckt. Die überlieferten Quellen dokumentieren über einen außergewöhnlich langen Zeitraum hinweg die wechselhafte Entwicklung einer religiös, kulturell und politisch tätigen Organisation des ostslavisch-ruthenisch-ukrainischen Bürgertums der Stadt Lemberg; einer ‚zivilgesellschaftlichen‘ Einrichtung im ursprünglichen Sinne des Wortes also, die weder dem direkten Wirkungsbereich des Staates noch der Kirche zuzuordnen ist. Für Osteuropa stellt eine solch vorzüglich dokumentierte Institution der longue durée wohl eine ausgesprochene Seltenheit, wenn nicht sogar einen Einzelfall dar. Die Lemberger Stauropegialbruderschaft hat eine solche Studie aber auch deshalb verdient, weil sie als ein bedeutendes Phänomen der ukrainischen und Lemberger Geschichte sowie der ost-west-europäischen Beziehungsgeschichte, der kulturell-religiösen Wechselwirkung zwischen dem lateinischen und orthodoxen Europa herausragt. So ist eigentlich nur zu bedauern, dass Šustova – arbeitstechnisch und auch sachlich allerdings gut verständlich – die Herausforderung nicht auf sich genommen hat, diese longue durée der Lemberger Stauropegie quellenkundlich für die ganzen 350 Jahre auszuleuchten – umso mehr, als sie dies für den Zeitraum bis zum Ende des 18. Jahrhunderts überzeugend tut. Denn sie beschränkt ihre Monographie auf die Zeitdauer bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis zum Moment der kurzen, vorübergehenden Schließung der Stauropegialbruderschaft (1787/88) im Zuge der josephinischen Kirchenreform, bevor dieser gesellschaftliche Organisationskern des Lemberger Ruthenentums als Stauropegial-Institut seine Tätigkeit erneut aufnahm und bis zur sowjetischen Besetzung im Zweiten Weltkrieg tätig blieb.
Die Autorin konzentriert ihre Untersuchung auf das Archiv des Lemberger Stauropegial-Instituts, welches heute im Zentralen staatlichen historischen Archiv in Lemberg lagert und an die 1700 Einheiten umfasst. Sie referiert die teilweise verstreut edierten Quellen zur Bruderschaft, die bereits im 19. Jahrhundert gedruckt publiziert wurden. Überdies liefert sie einen umfangreichen, aktuellen Überblick über die Historiographie zur Institution. Beides ist sehr hilfreich, weil viele der Materialien nur schwer greif- und auffindbar sind. Die Ausführungen zum bisherigen Forschungsstand (alleine 50 S.) sind dabei entlang den verschiedenen historiographischen Schulen (ukrainischen, russischen, kirchlich-religiösen, kulturhistorischen usw.) strukturiert.
Für eine quellenkundliche Abhandlung eigentlich unerwartet, breitet Šustova in einem eigenen Kapitel (130 S.) die vielfältige Geschichte der Lemberger Bruderschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts aus. Gestützt auf die Literatur und ihre hervorragende Kenntnis der Quellen behandelt sie hier erfrischend quellennah und erhellend detailreich die Frage der Entstehung der Bruderschaft, die innere Organisation, die politischen Aktivitäten auf lokaler und gesamtstaatlicher Ebene beim Einsatz für die Rechte des Lemberger Ruthenentums, das soziale Engagement (Spital u. a.), das bruderschaftliche Schul-, Theater- und Druckereiwesen. Dieser Teil ist ein bedeutender monographischer Beitrag zur Geschichte der Institution, der für sich selbst bestehen könnte. In Kombination mit den nachfolgenden, nun quellenkundlich gehaltenen Ausführungen vermittelt dieses Kapitel einen sehr plastischen, thematischen Leitfaden, welches vielfältige historische Informationsmaterial die Quellen zur Lemberger Bruderschaft bereithalten.
Im eigentlichen Hauptteil der Arbeit – nachdem sie bereits viele Erwartungen übertroffen hat – präsentiert die Autorin die archivalischen Quellen der Bruderschaft nach drei Gesichtspunkten: Quellen, die Aufschluss über das innere Funktionieren der Institution als typische städtische Korporation liefern; solche, die das Verhältnis der Bruderschaft zum Lemberger Stadtmagistrat, zu kirchlichen Instanzen und zu Stellen des polnisch-litauischen Staatsapparats erschließen; und schließlich jene, die Zeugnis vom kulturellen Wirken der Bruderschaft insbesondere im Bereich des Buchdrucks ablegen. Wie sie es sich zum Ziel gesetzt hat, so gelingt es ihr auch, nach Quellentypen geordnet einen Überblick über den überaus reichhaltigen Archivbestand auszubreiten, der die Forschenden anregen kann und ihnen gleichzeitig als Orientierung dient, wie das Material der Lemberger Bruderschaft für verschiedene Fragestellungen genutzt werden kann. Sie vermittelt in diesem Teil zusätzlich viele Einsichten und Interpretationen. Stellenweise geht sie sogar ausführlich auf interessantere Inhalte ihrer Quellen ein, wertet diese etwa im Bereich des bruderschaftlichen Druckereiwesens und der Bibliothek auch recht eigentlich aus. Man mag nicht immer mit allen Wertungen, historischen Gewichtungen und manchmal etwas gewagten Einordnungen übereinstimmen, die die Autorin in diesem und dem vorangehenden Kapitel vereinzelt vornimmt und dabei teilweise dem Sprachgebrauch der älteren Literatur verpflichtet ist („national-religiöser Kampf und Unterdrückung der orthodoxen Ukrainer“). Aber das schmälert den Gesamteindruck nicht, dass der russischen Autorin mit ihrer quellenkundlichen Monographie zu einer Einrichtung der ostslavisch-ukrainischen Geschichte ein Werk in bester ‚positivistischer‘, quellengesättigter Tradition gelungen ist.
Dieses bietet viele thematisch-inhaltliche Anregungen und Anhaltspunkte, wie das Archiv der Lemberger Stauropegialbruderschaft für weitere Forschungen fruchtbar gemacht werden kann. Die möglichen Themen reichen vom städtischen Alltagsleben, über das Funktionieren einer Druckerei, eines Archivs und einer Bibliothek im 17./18. Jahrhundert, über religiöse Rituale, politisch-religiöses Selbstverständnis und ‚Lobbying‘ bis hin zu Fragen von Sprache, Architektur und Musik.
Christophe von Werdt, Bern
Zitierweise: Christophe von Werdt über: Julija Ė. Šustova: Dokumenty L’vovskogo Uspenskogo Stavropigijskogo bratstva (1586–1788). Istočnikovedčeskoe issledovanie [Dokumente der Lemberger Stauropegialbruderschaft (1586–1788). Eine quellenkundliche Untersuchung]. Moskva: Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi, 2009. 647 S., Abb., Graph., Tab. = Rossija i Christianskij Vostok. Biblioteka, 8. ISBN: 978-5-9551-0334-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Sustova_Dokumenty_Stavropigijskogo_bratstva.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Christophe von Werdt. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.