Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Christophe von Werdt
Ivan S. Monolatij: Razom, ale majže okremo. Vzajemodija etnopolityčnych aktoriv na zachidnoukrajins’kych zemljach u 1867–1914 rr. [Zusammen, aber fast getrennt. Wechselwirkung der ethnopolitischen Akteure in den westukrainischen Ländern in den Jahren 1867–1914]. Ivano-Franivs’k: Lileja-NV, 2010. 735 S., 2 Ktn., Tab. ISBN: 978-966-668-250-8.
Mit über 600 Seiten Text legt Ivan Monolatij, mit Jahrgang 1976 Vertreter einer jüngeren ukrainischen Forschergeneration, eine aufgrund ihres Titels vielversprechende Abhandlung vor. Diese ist der Interaktion der verschiedenen „ethnopolitischen“ Gruppen in den „westukrainischen“ Gebieten des Habsburgerreiches – Ostgalizien und Bukowina – gewidmet. Seine Monographie versucht vom Anspruch her einen nicht nationalgeschichtlichen Zugang zur Geschichte der Region. Sie will die zwischenethnischen Wechselwirkungen beleuchten, wie sie sich im Bewusstsein der einzelnen ethnonationalen Gruppen äußerten und deren Identitätsbildung beförderten. Bei diesen ethnonationalen Gruppen handelt es sich zur Hauptsache um Ukrainer, Juden, Polen und Deutsche.
Monolatij hat zwar eine historische Ausbildung, ist jedoch heute Inhaber eines Politologie-Lehrstuhls. Seine theoriegeladene Herangehensweise ist spätestens nach über 100 Seiten (sic!) Wiedergabe westlicher, sowjetischer und postsowjetischer Theoriediskussion nicht mehr zu übersehen. Überdies leitet er auch jedes folgende Kapitel nochmals mit mehrseitigen theoretischen Ausführungen ein. Nach so viel Theorie ist man jedoch nicht wirklich gescheiter. Selbst versteht der Autor sein Buch als einen Beitrag zur „Ethnopolitologie“ im westukrainischen „Chronotop“ (S. 109). Genau daran krankt letztlich das ganze Werk. Es wertet historisches Material selektiv aus, um eine Theorie zu bestätigen: Die Geschichte habe im Rahmen des Habsburgerreiches „bewiesen, dass die politische, nationale und ethnische Gemeinschaft einiger Völker auf einem Territorium eine Illusion war“ (S. 219). An der differenzierten Wahrnehmung und Herausarbeitung kontingenter historischer Entwicklungsverläufe ist Monolatij nicht interessiert.
Der Autor gewichtet die Auswertung historischen Quellenmaterials und die Rezeption historisch-fachwissenschaftlicher Abhandlungen zum Themengebiet seiner Monographie deutlich geringer als den theoretischen Überbau. Westliche und exilukrainische Standardwerke zur Geschichte Galiziens wie beispielsweise jene von Kai Struve, John-Paul Himka, Paul Robert Magocsi oder Anna Veronika Wendland glänzen durch Abwesenheit – entsprechend auch deren differenzierte, eine gradlinige „ethnopolitische“ Interpretation störende Erkenntnisse. So vermag es auch nicht zu erstaunen, dass Monolatij entgegen allen Vorsätzen einer ukrainozentristischen, nationalukrainischen, ja teils primordialen Perspektive verpflichtet bleibt. Dabei beschreibt er Galizien als ein „kulturell-politisch ukrainisches Land“ (S. 115). Er mutet den einzelnen „Ethnonationen“ beispielsweise eine „gesetzmäßige Begierde“ zur „Wiederherstellung der eigenen sozialen Struktur“ zu, beglückt sie also mit einem eigenen Willen, so dass er sogar von einer „Selbstentsagung der Ukrainer“ hinsichtlich einer vollwertigen Integration in die Städte sprechen kann (S. 132).
Im Kapitel über die Herausbildung politischer „Ethnoforen“ in der Gestalt von Parteien bemüht sich der Autor, historisches Faktenmaterial auszubreiten, indem er die Entwicklung des nationalen Parteiwesens bei Ukrainern, Polen, Juden und Deutschen nachzeichnet. Einigermaßen differenziert gelingt ihm dies jedoch nur bei den Juden. Allerdings stehen wie bei den anderen „Ethnoforen“ auch hier die national-jüdischen, zionistischen Bewegungen im Vordergrund. Der Autor blendet politische Gruppierungen, die nicht seiner ethnopolitischen nationalen Polbildung folgen, praktisch vollständig aus. Er sieht nur national ausschließende Parteien am Werk. Am deutlichsten wird dies bei seiner Beschreibung der ukrainischen politischen Bewegungen, wo er alle anderen als die national-ukrainischen ignoriert. Denn solche Differenzierungen, die auch die Offenheit und Vielgestaltigkeit kollektiver Identitätsbildungsprozesse im galizischen „Chronotop“ aufzeigen würden, sind nicht seine Sache.
Das Kapitel zur Nationalitätenpolitik des Habsburgerreiches in Galizien atmet einen ähnlichen Geist der „ethnopolitischen“ Konfrontation und des Überlebenskampfes. So hält Monolatij fest, dass seiner Meinung nach die Loyalität gegenüber der Politik Wiens eine „defätistische Besonderheit“ der ukrainischen Bewegung gewesen sei (S. 220 f.). Die Sprachenpolitik habe bei den „ethnischen Minderheiten“ – zu welchen er Ukrainer und Juden zählt – zu einer doppelten Identität geführt und die jüngeren Generationen „von einem der wichtigsten Elemente der kulturellen Ressourcen der eigenen Ethnonationen“ losgerissen (S. 228). Bilanzierend bezichtigt er deshalb die Nationalitätenpolitik des Habsburgerreiches – kaum verwunderlich – „konfrontativer Methoden“ (S. 244). Der Abschnitt zur „ethnopolitischen Mobilisierung“ gehört zu den am stärksten quellennahen. Dies hängt damit zusammen, dass Monolatij hier ein Kernanliegen seiner Arbeit anhand der verschiedenen Parteiprogramme, die er wie immer selektiv analysiert, nachweisen kann: Die wachsende ethnopolitische Ausdifferenzierung verschiedener Nationen.
Letztlich ist das Buch von Monolatij nicht einer historischen Methode verpflichtet. Vielmehr verwendet es historisches Material, um ein politologisch-soziologisches Theoriegebäude zu untermauern: Die „ethnopolitische“ Ausdifferenzierung „ethnonationaler Gemeinschaften“ im „Chronotop“ Galiziens. Dies erklärt auch die außerordentliche Theorielastigkeit des Werks. Weil es überdies zur Stützung seiner Theorie kaum neues Quellenmaterial beibringt, sondern auf einem selektiv wahrgenommenen Forschungsstand zur Geschichte Galiziens aufbaut, darüber hinaus seine Themen nie kontingent, sondern nur theoriekonform behandelt, trägt es trotz einem vielversprechenden Titel wenig zur historischen, vielleicht mehr zur politologischen Forschung bei.
Zitierweise: Christophe von Werdt über: Ivan S. Monolatij: Razom, ale majže okremo. Vzajemodija etnopolityčnych aktoriv na zachidnoukrajins’kych zemljach u 1867–1914 rr. [Zusammen, aber fast getrennt. Wechselwirkung der ethnopolitischen Akteure in den westukrainischen Ländern in den Jahren 1867–1914]. Ivano-Franivs’k: Lileja-NV, 2010. 735 S., 2 Ktn., Tab. ISBN: 978-966-668-250-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Monolatij_Razom_ale_majze_okremo.html (Datum des Seitenbesuchs)
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