Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Wim van Meurs
Carola Sachse (Hrsg.): „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege. Göttingen: Wallstein, 2010. 430 S., Abb. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 4. ISBN: 978-3-8353-0490-1.
Inhaltsverzeichnis:
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Nach Nationalstaatsbildung und Erinnerungskulturen als Forschungsthemen der neunziger Jahre zeichnen sich heute die politischen Gestaltungspraktiken innerhalb der (neuen) Nationalstaaten des späten neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als neues Forschungsthema ab. Entsprechende Publikationen und Fachtagungen häufen sich. Im Vergleich zu den vorherigen konstruktivistischen und kulturhistorischen Themen und Ansätzen hat diese Thematik drei wichtige Vorzüge. Erstens verbindet sie reale gesellschaftliche Entwicklungen mit der Gestaltungskraft größerer politischen Konzepte. Die Darstellung gerät somit weder einseitig positivistisch noch ideengeschichtlich. Zweitens schlägt sie eine Brücke zwischen Ost und West in Europa. In diesem Kontext lassen sich für die Wegbereiter der Moderne im Nordwesten Europas und für die ‚Nachzügler‘ im (Süd)osten ähnliche Forschungsfragen in den nahezu gleichen zeitlichen Rahmen stellen. Die Herausforderungen für politische Entscheidungsträger und die sich etablierenden Experten waren überall die gleichen. Und drittens übersteigt die Fragestellung mit der gezielten Berücksichtigung transnationaler Transfers die traditionellen nationalen Forschungsrahmen zugunsten europäischer Verflechtungsgeschichte. Der vorliegende Sammelband von Carola Sachse (Wien), der auf eine Tagung aus dem Jahre 2008 zurückgeht, passt vorzüglich in diesen Trend. Mittel- und Südosteuropa werden nicht kulturhistorisch als konstruierte „mental maps“ betrachtet, sondern in erster Linie als Planungs- und Wirtschaftsräume. Im Fokus des Bandes stehen der Mitteleuropäische Wirtschaftstag (MWT, ab 1925) und dessen Deutsche Gruppe als Mittler zwischen Politik und Expertentum, zwischen Firmeninteressen und Geopolitik sowie zwischen Akteuren und Diskursen.
Der Sammelband als solcher ist in vier Teile gegliedert: vier Beiträge zu institutionellen Akteuren, jeweils drei zu Berichterstattung in den Medien sowie Expertenbiographien und schließlich vier zur Praxis der Südosteuropapolitik. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Aufgliederung als wenig stringent: Die Südost-Stiftung des MWT würde man unter „Institutionelle Akteure“ statt unter „Praktiken“ erwarten; den Beitrag von Milan Ristović über die jugoslawische und deutsche Sicht auf die Position Südosteuropas in der „neuen Ordnung“ eher unter „Institutionelle Akteure. Südosteuropa als Agenda und Vision“ als unter „Medien“. Diese Fragezeichen bezüglich Kohärenz und Gesamtthematik des Bandes besagen aber nichts über die herausragende Qualität mancher Beiträge. Zum ersten Teil steuerte die Herausgeberin und Projektleiterin selbst einen Beitrag über die Frage bei, inwieweit die scheinbar kalkulierenden Raumvorstellungen des MWT auch utopische Elemente im Sinne Karl Mannheims beinhalteten. Im Endeffekt handelt der Beitrag aber weniger von Staatsutopien als von völkischen Metaphern wie Organen, Ehen und Blüten. Ulrich Prehns Beitrag im zweiten Teil schließt nahtlos an den von Carola Sachse an, indem er sich mit Raumordnungsentwürfen der Zeitschrift „Volk und Reich“ (1925–1944) befasst, einem der Sprachrohre u.a. des MWT. Ian Innenhofers expertenbiographischer Beitrag erläutert, wie das Konzept der „agrarischen Übervölkerung“ steuernd auf Wahrnehmung und Gestaltung der Dorfgesellschaft einwirkte. Auch er deutet eine normative Unterscheidung an: „die Verwendung oder den Missbrauch von „Bevölkerungskonstruktionen“ zur Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele.“ (S. 262) Da der Beitrag überzeugend darlegt, wie der Wandel des Konzeptes politische Wahrnehmung, Ursachenforschung und Lösungsansätze prägte, ist die Frage berechtigt, welchen analytischen Wert die Unterscheidung zwischen „Gebrauch“ und „Missbrauch“ haben soll. Die Verschiebung von einem Malthus’schen Verständnis von Überbevölkerung zu einer Definition, die von der Produktion von Überschüssen und sinkenden Ertragssteigerungen durch Arbeit und Kapital ausgeht, wird anhand der kroatischen Ökonomen Otto Frangeš und Rudolf Bićanić erörtert. Markus Wien zeigt im vierten Teil, dass die Musterdörfer, die der MWT ab 1937 in Bulgarien einzurichten begann, mehr waren als ein aufgezwungener Transfer im Dienste der deutschen Kriegsvorbereitung. Nicht nur war die deutsche Einflussnahme zur Verbesserung der bulgarischen Landwirtschaftsproduktion bereits älterer, sondern auch Bulgarien selbst kannte eine Tradition von Musterdörfern, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichte. Anhand zentraler und lokaler bulgarischer Archive und Presseorgane weist der Autor nach, dass Sofia ein aktives Interesse an deutscher Expertise zeigte, sich aber gleichzeitig bemühte, die Ergebnisse in der Öffentlichkeit als nationale Eigenleistung darzustellen. Bei der Modernisierung des Agrarsektors deckten sich deutsche geopolitische Interessen und bulgarische Nationalstaatsbildung.
Das Gesamtkonzept des Buches bzw. des Forschungsprojektes (an der Universität Wien mit einer Laufzeit von 2006 bis 2010), über das der Leser leider nur spärlich und spät informiert wird (S. 418–419), wirft zwei Grundsatzfragen auf. Erstens die Frage, warum ein Projekt, in dem so viele Forscher sich mit der überschaubaren Tätigkeit des Mitteleuropäischen Wirtschaftstages befassen, trotzdem in einen heterogenen Sammelband statt in eine umfassendere, kohärentere Darstellung mündete. Zweitens legen Herausgeberin und manche Autoren aller Verflechtungsgeschichten zum Trotz großen Wert auf eine Trennung zwischen Wegbereitern des Nationalsozialismus und denjenigen, denen dieser Makel nicht anhaftet. Dargestellt wird wie im Brennglas aber just in den Beiträgen überzeugend, wie im und um den Mitteleuropäischen Wirtschaftstag Vorstellungen und Pläne, die wir aus heutiger Sicht gerne als grundverschieden betrachten, koexistierten und kollaborierten (z.B. im Beitrag von Ian Innerhofer über das Konzept der Überbevölkerung, S. 262–289). Grundtenor vieler Beiträge (sowie der neueren Forschungsliteratur zur Zwischenkriegszeit insgesamt) ist eben, dass diese Pläne und Vorstellungen ein Kontinuum bildeten, das das Völkische und das Faschistisch-Utopische ohne Weiteres miteinschloss. Die Alleinstellung derjenigen, die „völkisch geprägt“ waren, mutet daher eher politically correct an und nicht als gesicherte Forschungserkenntnis (S. 29 ff). In der gesamten Forschungsliteratur wie innerhalb dieses Bandes zeichnet sich diesbezüglich eine Kluft ab zwischen den deutschsprachigen Autoren, die sich, wie revisionistisch auch immer, ständig an die Aufarbeitung der Vergangenheit machen, und den angelsächsischen Autoren, die die Moderne als Forschungsfrage weitaus unbefangener angehen. Unter der Annahme, dass die Teilprojekte dieser Forschungskooperation in akademische Monographien für einen engen Kreis von Fachkollegen münden werden (bzw. gemündet sind), bleibt bei dem Sammelband bei aller Qualität und Gründlichkeit das Gefühl einer verpassten Gelegenheit. Gerade das reichhaltige Material der Autoren wäre geeignet gewesen, auch für ein breiteres Fachpublikum zu zeigen, dass Pläne für „Lebensraum“ und dessen Gestaltung im Osten und Südosten sich nicht auf das Dritte Reich reduzieren lassen, sondern breiter getragen und differenzierter waren, mit unterschiedlichsten Vor- und Nachfahren.
Zitierweise: Wim van Meurs über: Carola Sachse (Hrsg.): „Mitteleuropa“ und „Südosteuropa“ als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege. Göttingen: Wallstein, 2010. 430 S., Abb. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 4. ISBN: 978-3-8353-0490-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/van_Meurs_Sachse_Mitteleuropa.html (Datum des Seitenbesuchs)
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