Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Wim van Meurs
Andrej Kuško / Viktor Taki: Bessarabija v sostave Rossijskoj imperii (1812–1917). Moskva: NLO, 2012. 393 S., 4 Ktn., 4 Abb. = Historica Rossica – Okrainy Rossijskoj imperii. ISBN: 978-5-86793-970-0.
Ein akademischer Historiker in der Republik Moldau war lange, lange Zeit in mehreren Hinsichten benachteiligt. Während der Sowjetzeit wurde dort die Orthodoxie in der Darstellung der Nationalgeschichte wegen der Spannungen mit Rumänien von der Partei strenger überwacht als in anderen Sowjetrepubliken. Historiker, die sich dem Diktat der Politik in Chişinău widersetzten, wurden mit wenigen Ausnahmen (z.B. Iurie Colesnic) vom Gegendiskurs der Zugehörigkeit der Moldauer zur rumänischen Nation vereinnahmt, obwohl diese Darstellung genauso dogmatisch und unkritisch ist. Außerdem hat seit 1991 die einzigartige Spannung zwischen einem Regime, das die historische Selbständigkeit der moldauischen Nation als Legitimation für die Eigenstaatlichkeit hervorheben möchte, aber keine Historiker für diese Aufgabe findet, und einer Historikerzunft, der sich dem rumänischen Diskurs verschrieben hat, jede akademische Erneuerung und Öffnung blockiert. Dementsprechend wurde nur westliche Fachliteratur mit einem direkten Bezug zu Moldau und der bessarabischen Frage rezipiert, d.h. Zitate wurden ohne Rücksicht auf den Kontext zur Bestätigung der eigenen Position herangezogen.
In den letzten Jahren entwickelt sich jedoch endlich eine neue akademische Beschäftigung mit der Geschichte Moldaus, die – obwohl sie unter den gegebenen Umständen nicht unpolitisch sein kann – die Themen offen angeht und vor allem neue Themen jenseits der moralischen Bewertung von Schlüsselereignissen wie der russischen Annektierung 1812 und der Wiedervereinigung mit Rumänien 1918 anspricht. Obwohl alles andere als unpolitisch, hat die Gründung der Kommission zur Erforschung des kommunistischen Regimes 2010 zu diesem Wechsel, der auch ein Generationswechsel ist, beigetragen. Andrei Cuşco, der erste Autor dieser Studie über Bessarabien im Zarenreich 1812–1917, ist selbst Mitglieder dieser Kommission. Zusammen mit z.B. Svetlana Suveică und seinem an der University of Alberta lehrenden und forschenden Koautor Victor Taki steht er für die neue, im Westen ausgebildete Generation, der gerne Forschungsansätze in der angelsächsischen, französischen und deutschen Fachliteratur rezipiert und kreativ auf Moldau anwendet.
Dementsprechend verfolgt das Buch keine chronologische Logik zunehmender nationaler Unterdrückung der Moldauer im Zarenreich zwischen 1812 und 1917 (oder, nach der alten sowjetischen Meistererzählung, ihrer zunehmenden heilbringenden Einbindung in die revolutionären Aktivitäten des russischen Volkes). Ausgangspunkt ist die Integration als Grenzgebiet innerhalb des Russländischen Reiches, womit Bessarabien in einen breiteren Kontext aus Vergleich und Transfer eingeordnet wird (S. 21). Einzelne Kapitel befassen sich mit der „symbolischen Geographie“ des Reiches, mit der Integration der moldauischen Adligen, aber auch mit bekannten Themen wie dem diplomatischen Konflikt um Südbessarabien (Budschak) 1878, Bessarabien am Vorabend des Ersten Weltkrieges und den Wirren 1917–1918 zwischen Russischer Revolution und Wiedervereinigung.
Grundlegend ist die Feststellung, dass der Begriff „Nation“ in Bessarabien erst sehr spät eine Bedeutung erhielt und dem imperialen Diskurs bis zum Ersten Weltkrieg weitaus unterlegen war. Zugleich wird die Ausübung der Staatsgewalt im annektierten Bessarabien im 19. Jahrhundert im Sinne der neueren Forschung zum russischen Imperium nicht als schlichte Herrschaft von Gewalt und Repression betrachtet, sondern als komplexer Prozess ohne unveränderliche Zielvorgabe oder Großstrategie.
Das Kapitel zur symbolischen Politik des Imperiums beleuchtet den Besuch des Zaren Alexander I. in Bessarabien und Chişinău auf seiner Reise durch Südrussland im Frühjahr 1818. Die literarische Verarbeitung dieser Reise diente dazu, die einheimischen Eliten für den Zaren einzunehmen, aber vor allem auch, um Wissen über dieses Grenzgebiet zu verbreiten, und zwar aus einer Perspektive, die eine russische mission civilisatrice nahelegte. Ebenfalls ohne national-moralistische Empörung befasst sich Victor Taki im vierten Kapitel mit der Integration des einheimischen Adels in die Gesellschaftsstrukturen des Imperiums. In der älteren (rumänischen) Literatur wurden die Adligen immer nur danach eingeteilt, ob sie sich 1812 südlich des Pruth-Flusses zurückzogen und ihren Grundbesitz in Bessarabien aufgaben oder ob sie mit der Bewahrung ihrer Güter einen untergeordneten Status in der russischen Hierarchie akzeptierten.
Anhand von Memoiren von Gouverneuren, der Archive der bessarabischen Adelsversammlung aber auch neuerer Literatur der Imperialismusforschung sowie einschlägiger Literatur aus Chişinău, Iaşi und Bukarest aus den zwanziger Jahren wie aus den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts skizziert der Autor ein neues Bild. Die Kluft zwischen moldauischen Bojaren und russischem Adel wird nicht als natürliche Gegebenheit von 1812, sondern als Produkt der Interaktion danach betrachtet (S. 152). Die sogenannte „Sabotage“ der Assimilation durch die bessarabischen Bojaren in den ersten Jahren nach der Annektierung war somit keiner nationalen Treue geschuldet, sondern unüberbrückbaren sozialen Unterschieden und Superioritätsgefühlen auf russischer Seite. Auch war das Misslingen der Integration komplexer als ein beharrliches Verteidigen der einheimischen Institutionen und Traditionen gegen das Streben nach Uniformierung seitens der neuen Herrscher und ihrer Vertreter vor Ort (S. 181).
Besonders originell für die Moldau ist eine aus der internationalen Literatur stammende Idee, und zwar die Verbindung zwischen rumänischem/moldauischem und russischem Nationalismus einerseits und der orthodoxen Kirche andererseits im frühen 20. Jahrhundert. Die ersten Wurzeln einer moldauischen Nationalidee liegen somit beim lokalen Klerus und den kirchlichen Periodika. Hiermit verneinen beide Autoren die Existenz einer breiten Nationalbewegung jenseits kleiner Intellektuellenkreise selbst noch bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Erst 1917/1918 setzten plötzlich alle politische Bewegungen auf eine Plattform mit nationalen Forderungen anstelle sozialer Reformen oder Föderalismus. Ohne zu polemisieren, widerlegen Cuşco und Taki hier wie an anderen Punkten des Buches den Mythos einer langen und gewichtigen Tradition des Widerstands aus nationaler Motivation und Überzeugung, als sinnstiftendes Kontinuum zwischen der Annektierung 1812 und der Wiedervereinigung 1918. Die disparaten Meinungen zur Zukunft Bessarabiens auch unter den Gründern der Moldauischen Nationalpartei im April 1917 werden im kurzen Schlusskapitel skizziert, da diese beiden Schlüsseljahre ein eigenes Buch (mit dem gleichen ergebnisoffenen und quellenorientierten Ansatz verdienen würden.
Insgesamt gelingt es den beiden Autoren auf bewundernswerter Weise, sich von den alten Grabenkämpfen zwischen den historiographischen Lagern zu Bessarabien fernzuhalten. Erst im allerletzten Satz des Buches wird auf die Aktualität verwiesen: „Der ‚symbolische [russisch-rumänische] Gegensatz‘ wurde am Beginn des 21. Jahrhunderts in anderer Form innerhalb der moldauischen Gesellschaft fortgeschrieben […].“ Als akademische Historiker fügen die Autoren zurecht hinzu, „aber das ist eine andere Geschichte“ (S. 368).
Zitierweise: Wim van Meurs über: Andrej Kuško / Viktor Taki: Bessarabija v sostave Rossijskoj imperii (1812–1917). Moskva: NLO, 2012. 393 S., 4 Ktn., 4 Abb. = Historica Rossica – Okrainy Rossijskoj imperii. ISBN: 978-5-86793-970-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/van_Meurs_Kusko_Bessarabija_v_sostave_Rossijskoj_imperii.html (Datum des Seitenbesuchs)
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