Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Georg Wurzer

 

Oxana Swirgun: Das fremde Russland. Russlandbilder in der deutschen Literatur 1900–1945. Frankfurt a.M. [u. a.]: Lang, 2006. 268 S. = Bochumer Schriften zur deutschen Literatur, 65. ISBN: 978-3-631-55835-X.

Diese Arbeit reichte die aus der Ukraine stammende Bochumer Germanistin Oxana Swirgun im Jahr 2005 als Dissertation ein. Sie versteht sie als „Beitrag zu dem Thema ‚Das Fremde in der Literatur […]‘“ (S. 11) und will mit der Methode der Imagologie die literarischen Bilder von anderen Ländern erforschen. Neben den konkreten Russland-Imagines soll aber auch den allgemeinen Tendenzen der Russlanddarstellung nachgespürt werden.

Nach der aufschlussreichen Erläuterung der Fragestellung und der Methoden gibt die Autorin einen kurzen Abriss der Russlandbilder in der deutschen Literatur bis 1900. Sie begründet leider nicht, warum sie gerade die Jahrhundertwende als Zäsur gewählt hat. Swirgun stützt sich dabei fast ausschließlich auf die einzelnen Bände der „West-Östlichen Spiegelungen“. Auch für die ganze Untersuchung ist eine etwas dürftige Quellenbasis festzustellen. Es gelingt der Autorin jedoch durchaus, gewisse Kontinuitäten, aber auch Widersprüche in den Russlanddarstellungen in Deutschland aufzuzeigen.

Im Hauptteil behandelt sie die Russlandbilder in herausragenden Werken führender deutscher Schriftsteller während der untersuchten Periode. Rainer Maria Rilke betrachtete Russland, so Swirgun, vorwiegend positiv, wobei er in erster Linie die Religiosität des Volkes im Vergleich zum Westen rühmte. Der bedeutende Bildhauer Ernst Barlach wiederum empfand das russische Volk trotz seiner Schwärmerei für die Weite und Ruhe der russischen Landschaft als abstoßend, wobei er besondere Aufmerksamkeit der russischen Frau als Verführerin widmete – ein Stereotyp, das sich in vielerlei Gestalt bis heute erhalten hat. Rilke und Barlach beziehen sich beide auf das vorrevolutionäre Russland.

Der Publizist Alfons Paquet, der unter anderem als Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Russland arbeitete, veröffentlichte demgegenüber sowohl vor als auch nach dem Oktober 1917 Werke über die Großmacht im Osten. Dies liefert interessante Aufschlüsse darüber, wie der Sieg der Sowjetmacht den zeitgenössischen Russlanddiskurs prägte. Über das alte Russland schreibt Paquet laut Swirgun wenig originell, wenn er dem Volk mangelnde Zivilisation, Passivität, Weichheit und Alkoholismus, aber auch Religiosität und Friedfertigkeit attestiert und der Nation einen bedrohlichen Expansionismus unterstellt. Für das kommunistische Russland stellt der Publizist trotz vieler für den gebildeten deutschen Leser apokalyptischer Szenarien eine Kontinuität vieler Charaktermerkmale des Volkes fest. Anregend ist auch Swirguns Analyse der Russlandbilder in den Reisereportagen linker Intellektueller. Charakteristisch für diese ist eine Verklärung der Sowjet­union als grundlegend veränderte und dynamische Macht. Nichtsdestotrotz schleichen sich auch bei ihnen Stereotypen über das russische Volk ein.

Mit Thomas Mann untersucht die Verfasserin einen der führenden Literaten des 20. Jahrhunderts. In seinem „Zauberberg“ ist Russland zunächst eindeutig negativ konnotiert, erst im letzten Drittel wird es überraschend in ein Land der Menschlichkeit transformiert.

Die Reihe der untersuchten Autoren (Frauen finden sich nicht darunter) schließt der Trivialschriftsteller Edwin Erich Dwinger ab. Es ist ein großes Verdienst Swirguns, diesen heute weitgehend vergessenen Bestsellerautor berücksichtigt zu haben. Bei der Behandlung dieses Autors fällt jedoch ein großer Mangel ihrer Dissertation ins Auge: Ihre Methode ist zwar interessant und liefert aufschlussreiche Ergebnisse, sie unterlässt es aber, diese in einen weiteren historischen Rahmen einzubetten. Dazu kommt auch ein oberflächlich anmutender Umgang mit der historischen Forschungsliteratur. So führt sie die Aussage an, Dwingers Werke seien nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten öffentlich verbrannt worden (S. 211). Hier übernimmt sie ungeprüft eine Schutzbehauptung von Dwinger selbst (aus „Die 12 Gespräche“). Bei einer gründlicheren Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte wäre sie auf die Tatsache gestoßen, dass seine Werke von den studentischen Brandstiftern tatsächlich zur Lektüre empfohlen wurden.

Die von Swirgun verwendete Methode der „Imagologie“ ist durchaus konventionell und wurde schon von Ralf Günther Renner (in: Hans Erich Volkmann [Hrsg.] Das Russlandbild im Dritten Reich. 2., unveränderte Aufl. Köln, Weimar, Wien, 1994, S. 387–419) auf das Russlandbild der Schriftsteller im Dritten Reich angewandt. Die Autorin erwähnt den Titel zwar, nimmt aber im Text auf ihn kaum Bezug.

Trotz der aufgeführten Kritikpunkte lässt die junge Germanistin bei einer intensiven Weiterführung ihrer Forschungen und einem erweiterten, interdisziplinären Ansatz auf aufschlussreiche Resultate hoffen.

Georg Wurzer, Tübingen

Zitierweise: Georg Wurzer über: JGO_Rezensionen, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wurzer_Swirgun_Fremde_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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