Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reveiws 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Anja Wilhelmi
Jörg Driesner: Bürgerliche Wohnkultur im Ostseeraum. Stralsund, Kopenhagen und Riga in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 213 S., 7 Abb., 17 Tab./Graph. = Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien, 18. ISBN: 978-3-412-20559-1.
Inhaltsverzeichnis:
Dass Untersuchungen zur materiellen Kultur zunehmend mehr in das Blickfeld der historischen Forschung zu Fragen des Kulturtransfers gelangen und dass die Relevanz dieser kulturhistorischen Ansätze keiner weiteren Diskussion bedarf, belegt Jörg Driesner mit seiner nunmehr vorliegenden (an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald eingereichten) Dissertation zur bürgerlichen Wohnkultur im Ostseeraum.
Driesners Sample „materieller Kultur“ setzt sich aus verschiedenen Haushaltsinventaren zusammen: „ausgewählte Möbelarten“, „Wohnauskleidung“ und „Musikinstrumente“ (siehe Inhaltsverzeichnis). Beim Lesen von Spuren dieser „Wohnkultur[en]“ bedient sich der Verfasser der Quellengattung der Nachlassinventare. (S. 9) Dabei interessieren ihn nicht so sehr Lebensgewohnheiten und Konsumverhalten, sondern sein Blick richtet sich auf die inszenierte Selbstverortung eines Wohnungsinhabers innerhalb der eigenen bzw. in Abgrenzung zu anderen sozialen Schichten.
Der komparatistische Aspekt wird nochmals erweitert durch die räumliche Ausweitung auf drei Untersuchungszentren: Riga, Stralsund und Kopenhagen, um am Beispiel dieser Städte Hinweise auf „großräumige Strukturen und Trends“ zu finden. (S. 10) Indem der Verfasser für die Analyse von kulturellen Transferprozessen eine Vergleichsebene konstruiert, auf der die drei Ostseestädte angesiedelt werden, berücksichtigt er die für jeden Ort unterschiedlichen politischen und sozialstrukturellen Verhältnisse. Dies spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider: Der Einführung, in der ausführlich auf die Quellenkritik bei der Bearbeitung von (Nachlass-)Inventarlisten eingegangen wird, folgt ein ausführlicher Exkurs zu den „Historischen Hintergründen“, der der eigentlichen Analyse vorausgeht. In dem knapp gehaltenen Fazit werden die Ergebnisse, die „Strukturen und Trends“ konzise wiedergegeben.
Der über zwei Jahrhunderte umfassende Untersuchungszeitraum (17. bis 18. Jahrhundert) impliziert einen Rundgang durch die Geschichte von Wohnkultur, Möbeln und Wohnaccessoires. Driesner belegt den Wandel der Funktionsweisen und Formen sowie der Fertigungsmaterialen, der modischen Einflüssen aus jeweils unterschiedlichen westeuropäischen Ländern unterlag. So lässt sich als ein ausgesprochen eindrucksvolles Beispiel von Kulturtransfer im Bereich der Konsum- und Luxusgeschichte die räumliche Entwicklung des Teegenusses allein aufgrund der Verbreitung von Teetischen plastisch nachvollziehen. (S. 74 f.)
Sehr klar gelingt es dem Verfasser auch, Innovationen im Bereich der Wohnkultur zeitlich zu fixieren; sie werden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts deutlich erkennbar. Die Modetrends, die in diesem Prozess nachzuzeichnen sind, kamen ihrem Ursprung nach primär aus Italien und Frankreich; über die Rezeption britischer und niederländischer Handwerker gelangten sie an die Ostsee.
Erregen diese Befunde zunächst kein weiteres Erstaunen, verwundert der eindeutig nachzuverfolgende Weg der Mode innerhalb des Untersuchungsraumes umso mehr. Denn Modetrends erreichten in der Regel auf ihrer ersten Station die Residenzstadt Kopenhagen und mit zeitlichem Abstand daran anschließend erst die beiden Handelsstädte. So nahm Kopenhagen auf allen Untersuchungsebenen eine „Vorreiterrolle“ im Kulturtransfer ein. (S. 168)
Wenn dann im weiteren Verlauf der Untersuchung Driesners Ergebnisse zu spezifischem Gruppen- oder Schichtverhalten insgesamt aufgrund der Quellenlage eher lückenhaft ausfallen, kann er doch nachzeichnen, dass nicht allein der Adel, wie gemeinhin anzunehmen, sondern die gesamte städtische Bürgerschicht Modetrends rezipierte und weiterreichte.
An einigen Stellen wird die große Fleißarbeit Driesners unterbrochen von sichtbaren Hindernissen, die sich gerade aus der Heranziehung von Nachlassinventaren ergeben und die die Beschränktheit (dessen sich der Autor stets bewusst ist) des Quellenfundus widerspiegeln. So bleiben wie die erwähnten sozialgeschichtlichen Aspekte, u.a. Analysefragen zur Verbreitung von Musikinstrumenten, unbeantwortet.
Trotz dieser Einschränkungen zeigt die vorliegende Arbeit, in welchem Maße Untersuchungen von materieller Kultur – auch und gerade außerhalb von Museen – für eine historische, eher an schriftliche Quellen gebundene Disziplin bereichernd eingesetzt werden können. Anhand der hier gewählten Haushaltsgegenstände lässt sich eben nicht nur ein Licht auf das Alltagsleben und die Sozialstruktur einer Personengruppe oder einer Gesellschaftsschicht werfen; das wäre aus Sicht Driesners zu banal. Mit ihnen gelingt vielmehr der Nachweis von Modetrends und Handelsbeziehungen; auch können Rückschlüsse über die kulturelle Infrastruktur einer Stadt innerhalb einer Region oder in Abgrenzung zu anderen Städten und Regionen gezogen werden.
Zitierweise: Anja Wilhelmi über: Jörg Driesner: Bürgerliche Wohnkultur im Ostseeraum. Stralsund, Kopenhagen und Riga in der Frühen Neuzeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 213 S., 7 Abb., 17 Tab./Graph. = Wirtschafts- und Sozialhistorische Studien, 18. ISBN: 978-3-412-20559-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wilhelmi_Driesner_Buergerliche-Wohnkultur.html (Datum des Seitenbesuchs)
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