Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ernst Wawra

 

Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.– 20. Jahrhundert. Hrsg. von Zaur Gasimov. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. 213 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz: Beihefte, 90. ISBN: 978-3-525-10122-3.

Inhaltsverzeichnis:

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Andreas Kappeler hat seine Geschichte des russländischen Reiches treffend mit dem TitelRußland als Vielvölkerreichüberschrieben. In diesem Reich wurde bei dem Nebeneinander der verschiedenen Sprachen vom Zentrum für das Russische eine Vorrangstellung beansprucht, die jedoch nicht zwangsläufig in der Peripherie anerkannt wurde. Dieses Problem war seit derSammlung der russischen Landebis Ivan Groznyj entstanden und verschärfte sich in den folgenden Jahrhunderten, da mit jeder territorialen Expansion weitere Völker in das Zaren- bzw. Kaiserreich inkorporiert worden sind. Zur Effizienzsteigerung der Verwaltung und durch das Einsetzen von Gouverneuren, die aus den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg in die sprichwörtlichen Provinzen des Reiches kamen, wurde die Frage nach der einen lingua franca immer wieder aufs Neue gestellt: Über die Sprache sollte eine Einbindung in das Vielvölkerreich erleichtert werden, und so entschied man im Zentrum, dass einzelne schlicht verboten werden sollten. Als Beispiele seien hier nur derValuevskij cirkuljar(Zirkular des Innenministers Pëtr A. Valuev) von 1863 und derĖmskij ukaz(Emser Erlass) von 1876 genannt, welche als Höhepunkte dieser Politik gesehen werden können, weil nun nach den Restriktionen in der Wissenschaft das Druckverbot für die ukrainische Sprache auf sämtliche Publikationen und auch auf Theateraufführungen im russländischen Kaiserreich ausgedehnt wurde. Nach 1917/1922 stand die junge Sowjetunion in diesen Fragen vor einem ähnlichen Problem, da die Bolševiki den Spagat zu vollbringen suchten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker mit der gleichzeitigen Einbindung der nichtrussischen indigenen Völker zu vereinen. In der Zeit des Bürgerkrieges hatte man sogar bei den Propagandaplakaten auf die sprachlichen Unterschiede Rücksicht genommen, indem man dieZielgruppenin ihrer jeweiligen Muttersprache ansprach. Das PlakatCar, pop i kulak(Zar, Pope und Kulak) wurde in mehr als zehn Sprachen übersetzt und verbreitet, um auf diese Weise mit einem identischen GrundmotivNikolaj II. in der Mitte, der von einem Vertreter der Religion und einemKulakenflankiert wirdbeispielsweise die Čuvašen ebenso zu erreichen wie die Tataren. Dies lässt sich in die sogenannte Korenizacija-(Einwurzelungs-)Politik einordnen, und eine Änderung dieses Vorgehens trat erst unter Iosif Stalin einnach diesem sollten einzelne Versuche der Russifizierung unter seinen Nachfolgern bis hin zu Konstantin Černenko immer wieder unternommen werden, die erst mit der Politik von Michail Gorbačev beendet worden sind.

Der hier anzuzeigende BandKampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.20. Jahrhundertsetzt sich aus neun Einzelbeiträgen zusammen, die sich mit den Ländern und Regionen des heutigen Baltikums (Karsten Brüggemann und Irēne Šneidere), Polens (Malte Rolf), Sibiriens (Jan Kusber), der Republik Tartastan (Ruth Bartholomä) sowie Transnistrien (Jan Zofka) beschäftigen. Weiterhin werden das jüdische kulturelle Leben unter dem Eindruck der Russifizierung (Kerstin Armborst-Weihs) sowie die Bedeutung der kyrillischen Schreibweise (Andreas Frings) und der russischen Sprache insgesamt (Michael G. Smith) für Russifizierungsbestrebungen untersucht. Der Herausgeber Zaur Gasimov stellt[e]inige Überlegungen“ „[z]um Phänomen der Russifizierungen(beide Zitate S. 9) voran und definiert dieses alsVerbreitung der russischen Sprache und Kultur im vorwiegend nichtrussischen Umfeld zu Lasten der lokalen Sprache bzw. Sprachen und Kulturen, wobei er bzw. die einzelnen Beiträger nicht nur derPolitik von oben(beide Zitate S. 10) nachgehen möchten. Aufgrund der starken Unterschiede zwischen dem Zaren- bzw. Kaiserreich Russland und der Sowjetunion sowie zwischen den zu russifizierenden Regionen bzw. Völkern spricht Gasimov vonden Russifizierungen(S. 11) und es liegt in der Natur der Sache und kann bei dieser Anzahl von Beiträgern auch nicht überraschen, dass sich die Erklärungsansätze sowie die Definitionen derRussifizierung(en)in diesem Sammelband stark unterscheiden.

Karsten Brüggemann verfolgtam Beispiel der Ostseeprovinzen des Zarenreichs, wieLand und Leuterussischwerden sollten [](beide Zitate S. 27), und verweist dabei auf die eklatanten Unterschiede in der Russifizierungspolitik vor und nach den russischen Revolutionen, weshalb er den Begriff für die baltischen Provinzen in der vorrevolutionären Zeit ablehnt. Malte Rolf zeigt in dem mit 36 Seiten umfangreichsten Beitrag verschiedeneKonzepte imperialer Herrschaft im Königreich Polen (18631915)(S. 51) auf, wobei er als Akteure die imperiale Verwaltungselite des Königreichs Polen bzw. des in jener Zeit so genannten Weichsellandes in den Blick nimmt und untersucht, wie dieseihre Herrschaftspraktiken im Königreich wahrnahmen und beschrieben(S. 52). Jan Zofka wiederum übernimmt nicht den vorgegebenen Leitbegriff der Russifizierung, sondern analysiert am Fall Transnistriens die auf Roger Brubaker zurückgehende Vorstellung desRussisch-Seins(S. 106). Damit ließen sich, so Zofka,Kategorien [] hinterfragen und Vergleichsaspekte [] eröffnen(S. 121), und er sieht darin den Vorteil, dass der Blickwinkel auch auf die Sichtweise der zu Russifizierenden gelenkt werden kann. Kerstin Armborst-Weihs betont in ihrem Beitrag den engen Zusammenhang zwischen Sprach- und Kulturpolitik in ihren theoretischen und tatsächlichen Interdependenzen, und demonstriert, dass die Übernahme der russischen Sprache keineEingrenzung der inoffiziellen kulturellen Aktivitätenoder gar einAbsterben [] jüdischer Kultur(beide Zitate S. 176) bedeutete, wobei ihr Fokus vor allem auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liegt. Jan Kusber betrachtetRaum und Mensch im Kontext der Russifizierung(S. 177) in Sibirien, und hinterfragt kritisch deren Bedeutung, da bei der Inbesitznahme dieses Raumes die Prioritäten der Ökonomisierung und Territorialisierung vor der nachgeordneten Sprachenpolitik offen zu Tage träten.

Der Band, der auf eine gleichnamige Tagung im Mai 2010 in Mainz zurückgeht, bleibt bei den behandelten Ländern hinter dem Tagungsprogramm zurück, da Weißrussland oder die Ukraine leider keine nennenswerte Erwähnung mehr finden. Vor dem Hintergrund des besonderen Verhältnisses zwischen demgroßrussischenRussland und derkleinrussischenUkraine vermisst man einige Ausführungen zu dieser speziellen Sprachenproblematik. Dies hätte in Form eines längerenüber die „[e]inführende[n] Fragmente(S. 9) des Herausgebers hinausgehendenBeitrages geleistet werden können, der einerseits den Stand der Forschung ausführlicher referiert sowie andererseits unter diesem Dach die Einzelbeiträge einordnet und zusammenführt hätte.

Da die große Vielfalt der behandelten Länder mit einer noch größeren Anzahl an verwendeter Literatur aus dem nordost-, ostmittel- und osteuropäischen Raum einhergeht, hat man den meisten Titelangaben äußerst hilfreiche Übersetzungen beigefügt, so dass auch beispielsweise dem nicht Tatarisch-Kundigen eine Vorstellung von der Forschungsliteratur gegeben wird. Eine Stärke des Buches ist, dass es Gasimov gelungen ist, die Beiträger so auszuwählen, dass ein differenziertes Bild von Russifizierungen entsteht. Gleichzeitig wird das bisherige Verständnis von Sprachpolitik, das den Fokus oft zu stark auf eineRussifizierung durch Sprachelegte, durch die Hinzunahme und die Beachtung weiterer Faktorenwie der Rolle der orthodoxen Kircheergänzt.

In der Gesamtschau bleibt somit festzuhalten, dass der Sammelband einen profunden Eindruck davon vermittelt, wie unterschiedlich Russifizierungen sich im Laufe der Jahrhunderte in Ostmittel- und Osteuropa gestalteten und wie wichtig die regionalen, nationalen, ethnischen und religiösen Besonderheiten in diesem Zusammenhang sind.

Ernst Wawra, Göttingen

Zitierweise: Ernst Wawra über: Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.– 20. Jahrhundert. Hrsg. von Zaur Gasimov. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012. 213 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz: Beihefte, 90. ISBN: 978-3-525-10122-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Wawra_Gasimov_Kampf_um_Wort_und_Schrift.html (Datum des Seitenbesuchs)

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