Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan Tesař

 

Liliya Berezhnaya / Christian Schmitt (Hrsg.): Iconic Turns. Nations and Religion in Eastern European Cinema Since 1989. Leiden, Boston: Brill, 2013, XIII, 256 S. ISBN: 978-90-04-25277-6.

 

Inhaltsverzeichnis:

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Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich als die Ära der „Turns“ in den Geisteswissenschaften bezeichnen. Jeder solche „Turn“ bedeutete einen erheblichen Perspektivwechsel, eine neue Fragestellung oder Methodologie. Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu beantworten, ob der Sammelband wirklich einen solchen ‚Turn‘ anbietet.

Der Sammelband, der von zwei im Rahmen des Exzelenzclusters „Religion und Politik“ tätigen Wissenschaftlern an der Universität Münster herausgegeben wurde, ist einer der jüngsten Beiträge zu einem breiteren Forschungsfeld, das sich dem Medium des Films in Osteuropa widmet. Die Religionswissenschaftlerin und Historikerin Liliya Berezhnaya hat in früheren Forschungsprojekten zur „Todeskultur“ in der Ukraine gearbeitet, während der Philologe Christian Schmitt zum Kinopathos im Gegenwartsfilm geforscht hat. Obwohl einige andere Studien bereits die Beziehungen zwischen Nationalismus, Identität und Film thematisiert haben, bietet der Bezug zur Religion eine frische Forschungsperspektive.1

Insgesamt enthält der Band zwölf Studien, die in drei größere Themenbereiche gegliedert sind: „Institutional Powers“, „Sacred and Profane Images“ und „Conflict, Trauma, and Memory“. Alle Beiträge verfügen über einen filmographischen Überblick und das Buch bietet zusätzlich ein Namensregister. Die Autoren haben es sich zum Ziel gesetzt, sowohl die Beziehungen zwischen Religion und Nation im osteuropäischen Gegenwartsfilm zu erforschen, als auch das Verhältnis des Films als Medium zu anderen kulturellen Entwicklungen zu beleuchten. Obwohl das Buch vor allem für Kulturwissenschaftler und Filmkritiker geschrieben wurde, befassen sich einige Studien im Band mit historischen Themen und können daher auch für Historiker, die sich mit osteuropäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen, eine interessante Lektüre bieten. Das gilt vor allem für den Aufsatz von Hans-Joachim SchlegelReligion and Politics in Soviet and Eastern European Cinema: A Historical Survey“, in dem nicht nur die Beziehung zwischen der Filmindustrie und dem totalitären Regime, sondern auch die Handlungsspielräume berühmter Regisseure wie Sergej Ejzenštein und Andrej Tarkov­skij innerhalb der Diktatur beschrieben werden. 

Die Forschungsperspektive der Herausgeber, die hauptsächlich in der theoretischen Einführung dargelegt wird, ist klar strukturiert und auch für Fachfremde zugänglich geschrieben. Dasselbe gilt für die überwiegende Mehrheit der Studien im Band, egal ob es sich um dichte hermeneutische Analysen oder um breitere Überblicke und umfassende Kontextualisierungen handelt.

Die Hauptthese, die von den Herausgebern in der Einleitung formuliert wird, lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass in dem untersuchten Filmen einerseits ein deutlicher Prozess der Sakralisierung der Nation zu beobachten ist, andererseits aber auch ein Prozess der Nationalisierung der Religion sichtbar wird. Die Herausgeber sind der Meinung, dass dieser vermutlich universale kulturelle Prozess als ein spezifischer Typ des Transfers zwischen zwei Deutungsstrukturen betrachtet werden kann. Aus dieser Perspektive spielen die beiden filmischen Sphären, die des Religiösen und des Nationalen, die Rolle von Sinnträgern. Zusätzlich erlaubt das Filmmedium eine produktive Vermischung der Sphären, die nicht nur die gegenwärtigen sozialen Entwicklungen spiegelt, sondern auch neue Narrative und Interpretationen mit dem Anspruch auf einen Identitätswandel der sozialen Akteure durchzusetzen versucht (S. 1617).

Eine der Stärken des Buchs besteht in der eingehenden Analyse der Filmnarrative, der Symbole und der ästhetischen Formen, wobei sich die Beiträge nicht nur an einzelnen Fallbeispielen orientieren, sondern versuchen, eine Verbindung zum jeweiligen Kultursystem der einzelnen Staaten herzustellen. Als pars pro toto soll an dieser Stelle der von Eva Binder geschriebene Beitrag „Rethinking History: Heroes, Saints, and Martyrs in Contemporary Russian Cinema“ genannt werden. Die hermeneutische Analyse und die folgende Interpretation der religiösen und patriotischen Filme sind im russischen Kontext besonders gelungen, weil das analysierte Phänomen in seiner Vielfalt dargestellt wird. Das komplexe Berührungsgeflecht der Institutionen, namentlich der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) und des Föderalamtes für Filmförderung, wird in dem Aufsatz „Russian Film Premieres in 2010/11: Sacralizing National History and Nationalizing Religion“ von Natascha Drubek überzeugend analysiert. Dabei wird auch die Rolle der Regisseure und anderer Faktoren, etwa der Gedächtniskultur, untersucht und betont. Berechtigte Aufmerksamkeit wird sowohl dem Produktionszweck des Films als auch der Entschlüsselung der symbolischen Formen geschenkt.

Auf der Untersuchungsebene stehen die Legitimierungsstrategien der diskursiven Äußerungen im Filmnarrativ im Vordergrund. Diese werden nicht nur aus der Perspektive der Sinnkonstruktion (von innen) analysiert, sondern auch auf ihre Wahrnehmung hin untersucht. Die Resultate der Studien über die russische Filmproduktion, betonen sowohl die Bedeutung des agenda setting im öffentlichen Raum als auch das Potenzial des Publikums, bestimmten Darstellungen im Sinne Gramscis zu widersprechen. Vornehmlich im Aufsatz „Blessed Films: The Russian Orthodox Church and Patriotic Culture in the 2000s“ von Stephen M. Morris wird deutlich, dass die Rolle der ROK im öffentlichen Raum großer geworden ist. Der Grund dafür sei, dass die ROK auf der Ebene der Filmsprache und Narrative erfolgreich die Ideen der Kirche mit dem neuen, nationalen Patriotismus, der sich nach dem Zerfall der Sowjetunion in der Gesellschaft entwickelte, verknüpft hat, um sich auf diese Weise als bedeutende und unersetzliche Organisation zu legitimieren. Die konkreten Legitimierungsstrategien werden in den von der Kirche produzierten oder mit dem Segen der Kirche versehenen Filmen und Dokumenten sichtbar und von Morris analysiert.

Das theoretische Konzept des Kollektivgedächtnisses, das im letzten Teil des Buchs mit dem Titel „Conflict, Trauma, and Memory“ angesprochen wird, hilfreich, weil es Filme als wichtige Instrumente der Identitätskonstruktion zu erkennen lehrt. Sowohl die identitätsbildenden und gedächtniskonstruierenden Eigenschaften des Filmnarratives als auch der folgende Kampf um das Gedächtnis werden in der Analyse der Dokumentarfilme über den Flugzeugabsturz in Smolensk im Beitrag „Memory, National Identity, and the Cross: Polish Documentary Films about the Smolensk Plane Crash“ von Miroslaw Przylipiak ins Blickfeld gerückt. Der Beitrag ist deswegen von Bedeutung, weil der sich gerade vor den Augen des Forschers entfaltende Prozess der Konstruktion des Kollektivgedächtnisses nicht nur aus der Perspektive der Konstrukteure, sondern auch aus der Perspektive der Gesellschaft betrachtet wird. Eine spannende Frage, die aber möglicherweise die theoretischen Ansprüche des Sammelbandes übersteigt, wäre, inwiefern die religiösen oder patriotischen Filme als spezifische ‚Mythen‘ im Sinne Barthes oder Levy-Strauss betrachtet werden könnten, bzw. wo sie über strukturelle Analogien oder Unterschiede verfügen.

Der Sammelband weist aber auch ein paar Unklarheiten, Ambiguitäten und Simplifizierungen auf. Zunächst wird er seinem eigenen transnationalen Anspruch nicht gerecht. Die Einheit der osteuropäischen Region wird hauptsächlich an der geteilten sozialistischen Vergangenheit festgemacht, ohne andere Aspekte zu berücksichtigen (S. 5). Diese Definition Osteuropas nimmt aber keine Rücksicht auf komplexe historische Prozesse (z. B. religiöse, sprachliche, ästhetische). Die Definition Osteuropas scheint zu allgemein, künstlich und trägt zum Verständnis der Spezifizität der Region nicht viel bei. Die Einzelbeiträge des Bandes zeigen deutlich, dass sich sowohl die Tendenzen in der Kunst, als auch die institutionellen Entwicklungen und narrativen Strategien stark voneinander unterscheiden. Um den Widerspruch zu verdeutlichen, sollen im Folgenden zwei Fallstudien aus dem Band kurz verglichen werden. Im Aufsatz „The Godless Czechs? Cinema, Religion, and Czech National Identity“ von Jan Čulík wird die These artikuliert, dass die gegenwärtigen tschechischen Filme aus historischen Gründen im Allgemeinen antireligiös und antiklerikal seien. Während die Darstellung der Religion im Film in der Tschechischen Republik also keineswegs mit der Konstruktion der modernen tschechischen Nation verknüpft ist, sieht dies im russischen Gegenwartsfilm völlig anders aus. So zeigt Liliya Berezhnaya in ihrem Beitrag „Longing for the Empire: State and Orthodox Church in Russian Religious Films“, dass die orthodoxe Religion von russischen Regisseuren positiv konnotiert wird, weil religiöse Werte und religiöse Sinngebung als eng verbunden mit der nationalen Identität betrachtet werden. Mit anderen Worten beweist das Buch, dass trotz der gemeinsamen sozialistischen Vergangenheit die gegenwärtige religiöse, bzw. nationale Filmproduktion nicht ausschließlich durch das Bedürfnis, sich mit dem früheren totalitären Regime auseinanderzusetzen, geprägt ist. Das Rätsel, was Osteuropa eigentlich ist, löst das Buch also nicht.

Darüber hinaus scheint der Inhalt des Buchs geographisch unausgewogen. Während sich die Hälfte der Studien der ehemaligen Sowjetunion widmet, werden andere Länder Osteuropas überhaupt nicht erwähnt. Der Leser fragt sich, ob dahinter eine Absicht steht oder ob es daran liegt, dass es in diesen Ländern keine religiösen bzw. patriotischen Filme gibt. In der Einleitung erfährt man über die Auswahl des Korpus jedenfalls nichts.

Eine weitere Nachlässigkeit ist, dass die in der Einleitung sparsam und knapp angeführten Definitionen und Erklärungen wichtiger Konzepte wie „Religion“ und „Nation“ von den Autoren der einzelnen Beiträge nicht weiter verfolgt werden. Dies sorgt für Verwirrung, wenn die Autoren Begriffe wie „Religiosität“, „Spiritualität“, „transzendentale Effekte“, „Heiligtum“ oder „Märtyrer“ verwenden. Während in einigen Fällen, beispielsweise im Beitrag „Beyond the Surface, Beneath the Skin: Immanence and Transcendence in Györgi Pálfis Films“ von Christian Schmitt,  das Filmmedium unabhängig vom Thema als transzendenzfähig beschrieben wird (S. 184–186), wird in anderen Fällen, namentlich im Aufsatz von Eva Binder, eher eine symbolische Heiligkeit betont, die durch bloße Sinnkonstruktion produziert werde (S. 146150). Das heißt, dass das die Heiligkeit, die mit einer konkreten religiösen Tradition verbunden ist, durch Symbole, Zeichen und Narrativierung hergestellt wird. So können profane Ereignisse oder Helden sakrale Eigenschaften erwerben und damit eine Sakralisierung der Nation verwirklichen.

Die Grenzen zwischen den beiden oben beschriebenen Typen von Heiligkeit sind nicht klar festgelegt. Der daraus folgende Eindruck ist, dass Religion und Nationalismus nur zwei Seiten einer Medaille sind, die man als soziale Identität beschrieben könnte. In den Beiträgen herrscht Einigkeit darüber, dass die Konstruktion einer solchen Identität von den Produzenten des Mediendiskurses abhängig ist, die immer die jeweils andere Seite der Medaille zu instrumentalisieren versuchen. Anders gesagt, verwenden die patriotischen Filme religiöse Motive, und die religiösen Filme versuchen mit Hilfe der nationalistischen Symbolik ihre Relevanz und Legitimierungskraft zu erhöhen. Dabei bleibt aber eine Frage offen: Inwiefern ist es produktiv, religiöse und nationale Identität zu trennen?

Der letzte Kritikpunkt betrifft die Methodologie. Die Mehrheit der Studien enthält keine methodologische Einführung. Die Frage, warum bestimmte Filme ausgewählt wurden und welche methodologischen Voraussetzungen dabei eine Rolle haben, bleibt unbeantwortet. Darüber hinaus sind die analytischen Kategorien, z.B. „religiöser Film“, „spiritueller Film“ oder „Transzendentalstil“, mehrdeutig und das Beziehungsgeflecht zwischen diesen Begriffen wird nicht geklärt. Man fragt sich daher, ob die Filmografie repräsentativ genug ist, inwieweit die analysierten Filme überhaupt religiös oder spirituell sind und wie stark eigentlich die Produktion solcher Filme im Kontext der gesamten nationalen Filmografie verankert ist.

Als Zusammenfassung kann die These formuliert werden: Das rezensierte Buch konstruiert eine Variante des „Iconic Turn“, indem es einen solchen „Turn“ beschreibt. Zwar weist das Buch auf den Umfang und die Auswirkungen des „Iconic Turn“ im gegenwärtigen Osteuropa hin, aber ein neuer Perspektivwechsel wird nicht realisiert. Der Band würde sowohl von einer stärkeren terminologischen und methodologischen Reflexion als auch von einem komparativen und einem geographisch ausgewogeneren Zugang profitieren. Solange andere komparative und interdisziplinäre Studien nicht durchgeführt werden, kann man die Bedeutung des Phänomens, also die Wirksamkeit und den Einfluss der „Iconic Turns“ auf die jeweiligen Gesellschaften Osteuropas, nicht richtig beurteilen. Dennoch hat das Buch einen wichtigen Schritt in diese Richtung geleistet und kann damit als Basis für weitere Forschung dienen.

Jan Tesař, München

Zitierweise: Jan Tesař über: Liliya Berezhnaya / Christian Schmitt (Hrsg.): Iconic Turns. Nations and Religion in Eastern European Cinema Since 1989, Leiden, Boston: Brill, 2013, XIII, 256 S. ISBN: 978-90-04-25277-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Tesar_Iconic_Turns.html (Datum des Seitenbesuchs)

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1 Die Konstruktion und die Funktion der Mythen im Film in verschiedene Länder und die Wirkung auf die Gesellschaft wurden von Rainer Rother und anderen analysiert. Rainer Rother (Hsg.): Mythen der Nationen, Völker im Film, Berlin 1998.  Paulina Bren hat in ihrer Analyse die Fernsehfilme im Bezug zur Identitätsverstärkung im tschechoslowakischen Kontext thematisiert. Paulina Bren: The Greengrocer and his TV. The Culture of Communism after the 1968 Prague Spring, Ithaca-London 2012.