Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Tillmann Tegeler
Menschen in Bewegung. Migration und Deportation aus dem Baltikum zwischen 1850 und 1950. Lüneburg: Nordost-Institut, 2010, 371 S. = Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. N.F. 19 (2010). ISSN: 0029-1595.
Mit dem vorliegenden Themenheft sollen die Umstände (deutsch-)baltischer Migration seit der Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht werden. Den Auftakt macht eine Analyse von Indrek Kiverik. Er zeigt auf, wie durch die Auflösung der ständestaatlichen Strukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Deutschbalten in den russischen Ostseeprovinzen machtpolitisch ins Hintertreffen gerieten. Für Esten und Letten war der Übergang zum Deutschtum nun keine Voraussetzung mehr für den gesellschaftlichen Aufstieg. Den deutschbaltischen Ritterschaften, die immer stärker zwischen die Mühlsteine von russischer Zentralmacht und nationaler Erweckung von Esten und Letten gerieten, gelang es auch durch Reformkonzepte nicht, ihre Macht zu sichern. Deshalb verstärkte sich bereits in der Zwischenkriegszeit die Auswanderung der Deutschbalten, die schließlich in den Umsiedlungen der Jahre 1939/41 ihren Abschluss fand. Die Zeit von der Republiksgründung Lettlands bis eben zu diesen letzten Migrationen der Deutschbalten nimmt Helēna Šimkuva in den Blick. Anhand von statistischen Jahrbüchern, Volkszählungen, Zeitungsberichten und zeitgenössischen Darstellungen versucht sie nachzuweisen, dass die Entscheidung, das Land zu verlassen, weniger aus einer individuellen Motivation heraus getroffen wurde, als vielmehr äußeren Zwängen geschuldet war. Verantwortlich hierfür seien sowohl Gesetze als auch fehlende Grundlagen für Loyalität gewesen. Dass die Jugend der Deutschbalten Lettland den Rücken kehrte, lag an dem Umstand, dass hier anders als in Estland keine traditionsreiche Hochschule bestand. Die Entwicklung der baltischen Länder hin zu autoritären Regimen ließ in den Deutschbalten das Gefühl aufkommen, am härtesten von staatlichen Maßnahmen getroffen zu sein, obwohl ihre wirtschaftliche Freiheit erhalten blieb. Die deutschbaltische Entwicklung in Estland während der Zwischenkriegszeit untersucht Kaido Laurits. Erwartungsgemäß steht dabei die vielzitierte Kulturautonomie im Vordergrund. Der deutschen Kulturselbstverwaltung misst Laurits einen geringeren Rang als dem Verband deutscher Vereine bei, in dem sich die meisten deutschen Vereinigungen organisierten. Gestaltete sich das Verhältnis zur Titularnation aufgrund der Minderheitengesetzgebung zunächst gut, so lagen die Ursachen für eine spätere Verschlechterung in den nationalsozialistischen Einflüssen auf die deutschbaltische Jugend sowie auch einer Radikalisierung der Esten und den oben bereits genannten Einschränkungen durch das autoritäre Regime. So schwankten die Deutschen zwischen „staatspolitischer Loyalität und nationalpolitischer Isolation“, an deren Ende die Umsiedlungen standen. In dem Beitrag von Rasa Pārpuce wird der bisher soziologisch verstandene Begriff Migration umgedeutet und auf Kulturgüter angewendet, was nicht die Qualität des Aufsatzes schmälert, jedoch nicht nur in einem gewissen Widerspruch zum Titel des Sammelbandes steht, sondern auch semantisch fragwürdig ist. Pārpuce versteht es, eine recht spannende Geschichte von der Irrfahrt deutschbaltischer Archivalien, Bibliotheksbestände und musealer Gegenständen während des Zweiten Weltkriegs zu erzählen. Kennzeichnend für den Umgang mit diesen Kulturgütern ist nationalsozialistisches Kompetenzgerangel zwischen dem Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums und der Publikationsstelle Berlin-Dahlem, später auch zwischen nur Himmler unterstellten Behörden. Eigentlich sollten die Güter nach ihrem vertraglich geregelten Abtransport aus dem Baltikum nach Posen oder Thorn zu den umgesiedelten Deutschbalten verbracht werden, allerdings nachdem sie in Berlin durch staatliche Stellen einer Prüfung unterzogen worden waren. Allein dieser Weg bedeutete eine Gefährdung für die Vollständigkeit der Kulturgüter; durch Flucht und Vertreibung gingen weitere Bestände in unbekannter Menge verloren. Immerhin ermöglichte die Rivalität staatlicher Stellen den Deutschbalten während des Krieges einen relativ freien Umgang mit ihren Gütern. Ein bisher kaum untersuchtes Kapitel deutschbaltischer Geschichte behandelt Jānis Riekstiņš, der sich in seinem Beitrag stalinistischen Deportationen im Jahre 1945 widmet. Diese gegen die wenigen Hundert in Riga verbliebenen Deutschen gerichtete Aktion war Teil der Deportationen, von denen im Baltikum insgesamt fast jede Familie betroffen war. Gegen Kriegsende waren in den von der Roten Armee eroberten Gebieten v. a. Deutsche betroffen. Wie ihre baltischen Landsleute schon 1941 und dann wieder 1949 wurden auch die Deutschen in Sondersiedlungen im Inneren der Sowjetunion verbracht. Dort lebten sie als Staatsbürger mit eingeschränkter Reisemöglichkeit; unerlaubtes Verlassen der Siedlungen hatte eine fünf-, später zwanzigjährige Strafe zur Folge. Erst 1955 konnten die Deutschen die Sondersiedlungen wieder verlassen, nachdem es ein Jahr zuvor bereits zu Lockerungen im Vollzug gekommen war. Eine lesenswerte Mikrostudie zur Migrationsgeschichte von Esten, Letten und Litauern liefert Christian Pletzing mit seiner Untersuchung über Displaced Persons (DP) in Lübeck. Trotz fehlender Vergleichsforschungen vermag er einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die Balten in den Wirren des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland gelangt waren. Auch wenn Lübeck das Zentrum baltischer Emigration in der britischen Besatzungszone darstellte, unterschied sich das DP-Leben dort nur wenig von dem an anderen Orten. Zu Recht weist Pletzing auf die Sozialstruktur der Balten hin: Anders als bei anderen Nationen gab es unter ihnen v. a. Familien, was weniger Konfliktpotential in sich trug als die Gruppen meist junger Männer, die sonst die DP-Bevölkerung prägten. Auch der hohe Organisationsgrad der Balten, der sich beispielsweise in eigenen Schulen und Krankenhäusern niederschlug, trug zum positiven Bild der Balten bei Deutschen und Besatzungsbehörden bei. Wie anderswo endete das DP-Leben in Lübeck zu Beginn der 1950er Jahre mit dem Resettlement, der Übersiedlung der DPs als Arbeitskräfte vornehmlich in den angelsächsischen Raum; auch wenn es ein langes Ende war: Erst 1966 wurde das letzte Lager geschlossen. Am Beispiel des Exils der beiden lettischen Schriftsteller Pēteris Ērmanis und Jānis Jaunsudrabiņš zeigt Liene Lauska, welch unterschiedlichen Formen die Emigration von Künstlern, die in Deutschland blieben, annehmen konnten. Wie bereits in ihrer Dissertation zeichnet sie die soziale und kulturelle Integration beider Autoren nach, die es aufgrund ihrer Sprache schwer hatten, sich in ihrem Exilland zu etablieren.
Dieser aus Anlass der Umsiedlungen vor 70 Jahren herausgegebene Sammelband hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Der Hinweis im Editorial, dass das Ende der deutschbaltischen Migration nicht das Ende der Wanderungsgeschichte im Baltikum bedeute, ist nicht sonderlich originell. Dabei hätte der Gegenstand des Sammelbandes, Migration im Baltikum zwischen 1850 und 1950, die Möglichkeit geboten, über deutschbaltische Geschichte hinaus das Baltikum als Migrationsraum zu beschreiben. So sind die nach Deutschen nächstgrößeren Minderheiten der Russen und Juden überhaupt nicht Gegenstand der Betrachtungen geworden. Wirklich Neues bieten erfreulicherweise die Beiträge von Pārpuce und Riekstiņš, ergänzt durch den Blick auf Esten, Letten und Litauer (Pletzing). Wünschenswert bleibt daher nach wie eine Untersuchung zur Migration im Baltikum unter Einschluss aller Völker und Räume. Diese durch den Titel geweckte Erwartung wird leider enttäuscht.
Tillmann Tegeler, Regensburg
Zitierweise: Tillmann Tegeler über: Menschen in Bewegung. Migration und Deportation aus dem Baltikum zwischen 1850 und 1950. Lüneburg: Nordost-Institut, 2010, 371 S. = Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte. N.F. 19 (2010). ISSN: 0029-1595, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Tegeler_Migration_Baltikum.html (Datum des Seitenbesuchs)
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