Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Ljudmila V. Belgorodskaja: Obraz Rossijskoj imperii v zerkale anglo-amerikanskich spravočno-ėnciklopedičeskich izdanij XX v. [Das Bild des Russländischen Reiches im Spiegel anglo-amerikanischer Nachschlagewerke und Enzyklopädien des 20. Jahrhunderts]. Krasnojarsk: Izdatel'skij centr Krasnojarskogo gosudarstvennogo universiteta, 2006. 200 S. ISBN: 978-5-7638-0614-X.

Ljudmila V. Belgorodskaja: „Ot A do Z“. Rol’ britanskich i amerikanskich ėnciklopedičeskich izdanij v mežkul’turnoj kommunikacii Rossii i Zapada v XX v. [„Von A bis Z“. Die Rolle britischer und amerikanischer Enzyklopädien in der interkulturellen Kommunikation Russlands und des Westens im 20. Jahrhundert]. Krasnojarsk: Sibirskij federal’nyj universitet, 2008. 229 S., 10 Abb. ISBN: 978-5-7638-1219-0.

Beide von L.V. Belgorodskaja, Dozentin am Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte der Universität von Krasnojarsk, vorgelegten Bände beschäftigen sich mit dem Russlandbild in Großbritannien und den USA. Als Quellenkomplex dient den Darstellungen eine umfangreiche Sammlung englischsprachiger Nachschlagewerke, sowohl allgemeinbildender Art vom Stile der „Britannica“ als auch historische Fachlexika für Spezialisten. Ziel ist es, angeregt von den in Russland verhältnismäßig neuen akademischen Disziplinen der „Imagologie“ sowie der „Interkulturellen Kommunikation“, fremde Bilder und Vorstellungen vom Eigenen zu studieren, die Hintergründe ihrer publizistischen Entstehung sowie ihren historischen Wandel zu verfolgen und so zu Aussagen über das westliche Russlandbild zu gelangen. Dazu fragt die Autorin u. a. nach politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und anderen Faktoren, die das Russlandbild im angelsächsischen Sprachraum geprägt haben, nach Differenzen zwischen englischen und amerikanischen Werken, nach den Autoren der auf Russland bezogenen Einträge und nach Bestimmungsfaktoren des Verlagshandelns, nach wiederkehrenden Stereotypen in der Deskription Russlands sowie nach Vergleichspunkten zu russischen bzw. sowjetischen Nachschlagewerken. Die Konzentration auf US-amerikanische und britische Titel begründet Belgorodskaja dialektisch: Einerseits stünden beide Länder für den gleichen westlichen Kulturraum, weshalb sie eine Einheit bildeten, anderseits bedinge ihre unterschiedliche historische Entwicklung auch differierende Ansichten über Russland.

Obwohl unterschiedlich benannt und gegliedert, werden in beiden Büchern in Teilen dieselben Materialien und analytischen Anliegen abgehandelt. Die neuere Variante präsentiert sich in attraktiverer Aufmachung, mit übersichtlicher strukturiertem Inhaltsverzeichnis sowie mit einem – in der Ausgabe von 2006 fehlenden (!) – Quellen- und Literaturverzeichnis. Auch hat die Autorin die zwei Jahre zwischen den Büchern offensichtlich zur Zuspitzung ihrer Gedankengänge genutzt. Die Gruppierung des untersuchten Materials in einzelne Kapitel unterscheidet sich in beiden Bänden. Im ersten Buch richtet sie sich konkret an historischen Konstellationen der russischen Geschichte aus, und anhand dieser werden die anglo-amerikanischen Einschätzungen dargelegt. So beginnt – nach einer ausführlichen erläuternden Einführung zu den benutzten Quellen – die Studie mit den Voraussetzungen des Russischen Imperiums sowie der Zeit vor 1600 und führt dann weiter zu den Einschätzungen der angelsächsischen enzyklopädischen Publizistik über einzelne Phasen der russischen Geschichte: Stereotype Haltungen zur Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, die innere und äußere Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie die Epoche von „Bruch und Zerfall“ des Reiches. Als Sonderaspekt schließt sich die Behandlung des – Amerika besonders interessierenden – Themenkomplexes „Alaska“ an, bevor ein letztes Kapitel versucht, der „Technologie der Lenkung des historischen Bewusstseins der Leser“ auf die Spur zu kommen, wozu etwa die chronologische Strukturierung der russischen Geschichte, die Verortung russländischer Zivilisation und Kultur in der Weltgeschichte oder Fragen der Übersetzung spezifischer russischer Begrifflichkeiten zählen.

Der neuere Band weist eine andere Vorgehensweise auf: Er ist nach Perioden der angelsächsischen Publizistik gegliedert, für die jeweils nach dem spezifischen Umgang mit Russland gefragt wird, wobei die publizistischen Zäsuren 1917, 1946 und 1985 gesetzt werden. Sodann schließt sich hier ein Kapitel an, welches „Visualisierungen“ der russischen Geschichte sowie ihre kartographische Erfassung in den westlichen Publikationen aufgreift, bevor ein letzter Abschnitt sich des Spezialthemas der russischen Militärgeschichte in angelsächsischen Nachschlagewerken annimmt.

Was die Ergebnisse der Studien von L.V. Belgorodskaja angeht, so werden sie in inhaltlicher Hinsicht bei westsprachigen, auch mit der älteren Literatur vertrauten Historikern mehr wissendes Nicken hervorrufen als große Überraschungen. Belgorodskajas methodische ‚Hypothese‘, dass „das Zusammentreffen außenpolitischer, innerer und soziokultureller Faktoren auf das von den Nachschlagewerken entworfene Bild der russischen Welt eingewirkt“ habe (Obraz Rossijskoj Imperii, S. 8), ist ein Gemeinplatz – schließlich gehört die vielfältige Bedingtheit aller Aussagen über die Vergangenheit längst zu den Grundgesetzen geschichtswissenschaftlicher Analyse. In Zeiten postmoderner akademischer Selbstreflexion erscheint auch Belgorodskajas Verwunderung darüber, dass die „westlichen Nachschlagewerke […] ein Amalgam höchst wissenschaftlicher Zeugnisse [und] politischer Propagandamethoden“ sowie „eine Quelle der Verbreitung in der Gesellschaft vorherrschender kollektiver ethnischer und politischer Stereotypen“ darstellen („Ot A do Z“, S. 194), kaum angebracht. Aber sicher ist der Wert der beiden Bände für russische Leser, die sich fernab einschlägiger westlicher Publikationen befinden (ein weit verbreitetes Manko, das die Autorin zu Recht problematisiert) erheblich höher einzustufen, stellen sie doch einen Ausschnitt aus der beachtlich breiten angelsächsischen Beschäftigung mit Russland in komprimierter Form vor. Dies kann nicht nur Informations-, sondern auch Erkenntnisgewinn bedeuten, zumal der Blick aus der Ferne oft schärfere Bilder liefert als kurzsichtige Selbstbeschau. Hierin übrigens liegt im Umkehrschluss auch die Perspektive, die Belgorodskajas Bücher für westliche Leser fruchtbar machen kann – mit dem Blick von außen weisen sie auf ungern hinterfragte Selbstverständlichkeiten innerhalb der eigenen wissenschaftlichen Tradition hin.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Ljudmila V. Belgorodskaja: Obraz Rossijskoj imperii v zerkale anglo-amerikanskich spravočno-ėnciklopedičeskich izdanij XX v. [Das Bild des Russländischen Reiches im Spiegel anglo-amerikanischer Nachschlagewerke und Enzyklopädien des 20. Jahrhunderts]. Krasnojarsk: Izdatel'skij centr Krasnojarskogo gosudarstvennogo universiteta, 2006. ISBN: 978-5-7638-0614-X; Ljudmila V. Belgorodskaja: „Ot A do Z“. Rol’ britanskich i amerikanskich ėnciklopedičeskich izdanij v mežkul’turnoj kommunikacii Rossii i Zapada v XX v. [„Von A bis Z“. Die Rolle britischer und amerikanischer Enzyklopädien in der interkulturellen Kommunikation Russlands und des Westens im 20. Jahrhundert]. Krasnojarsk: Sibirskij federal’nyj universitet, 2008. ISBN: 978-5-7638-1219-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stadelmann_SR_Belgorodskaja_Belgorodskaja.html (Datum des Seitenbesuchs)

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