Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Felicitas Söhner
Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944–1954. Dokumente. Hrsg. und eingeleitet von Jan Foitzik. München: Oldenbourg, 2012. 629 S., Tab. = Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, 18. ISBN: 978-3-486-71452-4.
In denselben Tagen, in denen in deutschen Medien von einem „neuen Systemkonflikt“ zwischen Deutschland und Russland zu lesen ist (Jörg Lau: Geplatzter Deal, in: Die Zeit (11.04.2013), S. 1), erschien im Rahmen der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen eine Quellensammlung zur nach wie vor umstrittenen Stalinschen Deutschlandpolitik. Gerade deswegen stellt sich die Frage, nach welchen Gesichtspunkten zeitgenössische Wissenschaftler diesbezügliche Quelleneditionen herausgeben.
Die von Jan Foitzik veröffentlichte Edition entspricht im Wesentlichen der deutschsprachigen Ausgabe des 2011 in Moskau unter Mitarbeit von Andrej V. Doronin und Maksim A. Per’kov erschienenen Bandes „Sovetskaja politika v otnošenii Germanii, 1944–1954. Dokumenty“. Unterschiede finden sich in der Titulierung der Dokumente wie auch in deren Nummerierung, welche sich durch eingefügte Dokumente (Nr. 36 und 67) verschoben hat.
Die Edition beinhaltet sowohl bisher unveröffentlichte wie auch bereits publizierte Dokumente. Die meisten der erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten 141 Dokumente stammen aus den Beständen des Russischen Staatsarchivs für soziale und politische Geschichte (RGASPI), vor allem aus zwei Beständen: dem des Politbüros des ZK der Allunionspartei der Kommunisten (fond 17, opis’ 162) und dem des früheren sowjetischen Außenministers Molotov (fond 82). Weitere Fundstellen sind das Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation (AVP RF), das Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation (AP RF), dem Russischen Staatsarchiv für Wirtschaft (RGAĖ), sowie auch zwei deutsche Archive. In der Auswahl der Dokumente bietet der Band einen repräsentativen Abriss zu den derzeit zugänglichen Quellen zur sowjetrussischen Deutschlandpolitik. Leider fehlt eine Darlegung der Kriterien zur Auswahl der Dokumente. Nichtsdestotrotz eröffnen sich dem Leser durchaus bislang unbekannte Perspektiven. Befremdend wirkt die im Einleitungsteil auftretende Beschreibung des Quellenmaterials als „archivierte(s) Altpapier“ (S. 27), als „Datenmüll“ (S. 63) oder gar als „Papier, das oft schon zum Zeitpunkt der Entstehung keinerlei materielle Aussagekraft enthielt.“ (S. 18)
Foitziks Publikation ist zweigeteilt. Dem Dokumententeil vorangestellt findet sich eine umfangreiche Einleitung (S. 5–152), die aufgrund ihrer Ausführlichkeit als eigenständige Arbeit betrachtet werden könnte. Darin analysiert Foitzik die sowjetische Besatzungspolitik in der SBZ/DDR bis 1953 wie auch die Rolle der SED als Instrument der sowjetischen Besatzungspolitik und als Staatspartei und bietet dem Leser einen Erklärungsversuch der inneren Inkonsequenz einer sowjetischen Interessenpolitik in Deutschland. Unter dem Titel „methodologische Misere“ (S. 5–39) geht der Herausgeber auf die Situation ein, die man in Moskauer Archiven zum Teil vorfindet: Einige russische Archivbestände seien nach wie vor gesperrt (vgl. S. 24), auch existierten Schwierigkeiten, da es „weder auf sowjetischer noch ostdeutscher Seite eine Dienststelle [gab], die systematisch alle Aspekte der sowjetischen Deutschlandpolitik dokumentierte.“ (S. 25) Die sich daraus ergebenden Unwägbarkeiten würden verstärkt durch „Übermittlungsfehler im Moskauer Politbüro“ (S. 28) wie auch durch einen „unterschiedlichen Umgang mit Zahlen“ (S. 17), so dass beispielsweise an verschiedene Adressaten abweichende Beträge für Entnahmen oder Demontagen angegeben worden seien (vgl. S. 17). Foitzik spricht dabei von „Besonderheiten des sowjetischen Berichtstils“ (S. 30); sogar Stalin persönlich habe diese thematisiert und in diesem Zusammenhang bemängelt, dass „die westlichen Alliierten über gemeinsame Absprachen besser informiert seien als die sowjetische Seite.“ (S. 30)
Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem derzeitigen Forschungsstand wird vom Herausgeber „wegen der immensen Literaturfülle und der ungebremsten Flucht der deutschen Geschichtsschreibung in ‚Theorien‘ [als] nicht möglich“ (S. 38) angesehen und bleibt daher bedauerlicherweise aus. Ob diese den Leser tatsächlich „nur irritieren würde“ (S. 38), mag dahingestellt bleiben.
Im Kapitel „Von der Besatzungsdiktatur zur Parteidiktatur“ (S. 39–122) behandelt Foitzik die Übergangsprozesse der SBZ hin zum Sozialismus im Sinne einer Herrschaftspolitik. In seinen Überlegungen kritisiert Foitzik die politikgeschichtliche Diskussion über die Ursachen der „deutschen Spaltung“ (vgl. S. 39). Seiner Ansicht nach gilt es vielmehr, diese im Zusammenhang mit der sowjetischen Ordnungspolitik in Ostmitteleuropa zu verstehen, und es würde „in den Abgrund führen, das in den letzten sechzig Jahren aus Deutungs- und Lesarten vorgestellte Scherbengericht […] zu prüfen.“ (S. 39) Vielmehr habe schon der Staat DDR „als Experiment und als politische und soziologische Fehlkonstruktion von Anfang an den Keim des Untergangs in sich“ (S. 39) getragen.
Im folgenden Exkurs (S. 123–151) wird unter anderem, wenn auch nur auf wenigen Seiten, auf Aspekte der Entnazifizierung, insbesondere deren Defizite, eingegangen. Weiter beschäftigt sich Foitzik mit Entnahmen seitens der sowjetischen Besatzungsmacht. In seinen Ausführungen zu Demontagen und Reparationen, Patenten, sowjetischen Aktiengesellschaften und Besatzungskosten verweist der Herausgeber auf das verwirrende Datenmaterial, das hierzu vorliegt. An anderer Stelle spricht er gar von „Luftbuchungen“ (S. 146), welche in großem Ausmaß üblich gewesen seien, was er kommentiert: „Generell bleibt also die interne Buchhaltung mit so vielen Unbekannten behaftet, daß es keinen großen Sinn macht, die Details genauer zu studieren.“ (S. 138) In der Untersuchung der SAG Wismut macht der Herausgeber konkretere Angaben zum Kostenumfang. So erfährt der Leser, dass „bis Ende 1953 auf Reparationsrechnung […] etwa 9450 Tonnen Uran in die Sowjetunion“ (S. 147) geliefert wurden.
In Bezug auf die Stalin-Note vom März 1952 bieten sich dem Leser zwar kaum grundlegend neue Erkenntnisse; aber die Quellen lassen in eine Kreml-Politik blicken, die durchaus auf ein Interesse Stalins an einem neutralisierten Deutschland weist. Hierzu setzt sich der Herausgeber in der Einleitung kritisch mit Lesarten und der Debatte um die Stalin-Note auseinander.
Verwirrend wirkt, dass in den Titeln der Dokumente weitgehend auf Personennamen verzichtet wurde und die Akteure vor allem durch ihren Rang bzw. ihr Amt identifiziert wurden. Die Rezensentin vermisst auch eine klare Aussage zu den Normen und Leitbildern der Herausgeber sowie deren kritische Diskussion. Weiter wäre es dienlich gewesen, wenn die schon früher veröffentlichten Dokumente durchgehend mit einem Hinweis auf den ersten Publikationsort gekennzeichnet worden wären: Vgl. z.B. Bernd Bonwetsch [u.a.] (Hrsg.): Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjulpanov. Bonn 1997, Dok. 105 = Foitzik: Dok. 85; Georgij P. Kynin / Jochen P. Laufer (Hrsg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1949, Band 4. Berlin 2012, Dok. 60 = Foitzik: Dok. 66; Dok. 77 = Foitzik: Dok. 71; Dok. 157 = Foitzik: Dok. 78; Dok. 159 = Foitzik: Dok. 79; Dok. 179 = Foitzik: Dok. 82.) Sicher hätte eine intensivere Einbeziehung der bisherigen Kontroversen und Dispute der wissenschaftlichen Forschung zur sowjetischen Geschichte diese Edition bereichert.
Trotz mancher Schwächen besticht Foitziks Publikation aufgrund der eindrucksvollen Menge von der Forschung bislang zum Teil unbekannten Quellen, welche einen neuen Zugang zur sowjetischen Interessenpolitik im Nachkriegsdeutschland bieten können. Damit stellt der besprochene Band eine nützliche Bereicherung der Forschungslandschaft dar und liest sich in seinem bemerkenswerten Ansatz als begrüßenswerter Beitrag zur Rekonstruktion der deutschen Zeitgeschichte.
Zitierweise: Felicitas Söhner über: Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944–1954. Dokumente. Hrsg. und eingeleitet von Jan Foitzik. München: Oldenbourg, 2012. 629 S., Tab. = Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, 18. ISBN: 978-3-486-71452-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Soehner_Foitzik_Sowjetische_Interessenpolitik_in_Deutschland.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Felicitas Söhner. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.
1Vgl. Bernd Bonwetsch [u.a.] (Hrsg.): Sowjetische Politik in der SBZ 1945–1949. Dokumente zur Tätigkeit der Propagandaverwaltung (Informationsverwaltung) der SMAD unter Sergej Tjulpanov. Bonn 1997; Georgij P. Kynin / Jochen P. Laufer (Hrsg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1949, Bde. 1–4. Berlin 2004–2012; Gerhard Wettig (Hrsg.): Der Tjul’panov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2012.
2Vgl. Christian F. Ostermann (Hrsg.): Uprising in East Germany 1953. New York 2001; Jürgen Zarusky (Hrsg.): Die Stalinnote vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen. München 2002; Wilfriede Otto (Hrsg.): Die SED im Juni 1953. Interne Dokumente. Berlin 2003; Jochen P. Laufer: Die Stalin-Note vom 10. März 1953 im Lichte neuer Quellen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004) S. 99–118; Peter Ruggenthaler (Hrsg.): Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten. München 2007; Wettig, Gerhard: Der 17. Juni 1953 in sowjetischer Sicht, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 66 (2007) 1, S. 145–157.)
3Vgl. Peter Hübner: Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945–1970. Berlin 1995, S. 151.
4Vgl. Georgij P. Kynin / Jochen P. Laufer (Hrsg.): Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1949. Band 4. Berlin 2012, S. XXXVIII.