Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band jgo.e-reviews 1 (2011), 4, S.  

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Scholz

 

Robert Traba: Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914–1933. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. Osnabrück: fibre, 2010. 518 S., Abb. = Klio in Polen, 12. ISBN: 978-3-938400-52-4.

Seit 1997 gibt das Deutsche Historische Institut in Warschau die Buchreihe „Klio in Polen“ heraus. Wichtige historiographische Arbeiten aus Polen werden hier ins Deutsche übersetzt und damit einem breiteren deutschen (Fach-)Publikum zugänglich gemacht. Wie verdienstvoll ein solches Unternehmen des praktischen Kulturtransfers ist, zeigt sich einmal mehr an dem nun erschienenen zwölften Band. Das Buch von Robert Traba war schon bei seinem Erscheinen 2005 in Polen sehr erfolgreich und wurde vom polnischen Historikerverband als eine der besten Monographien des Jahres ausgezeichnet.

Traba beschäftigt sich mit dem ostpreußischen Identitätsdiskurs im Ersten Weltkrieg und vor allem in den Jahren danach. Der polnische Originaltitel „Wschodniopruskość“ („Ostpreußentum“) bringt den Gegenstand seines Interesses auf den Punkt und begründet gleichzeitig, warum Traba sich auf die Selbstverständigung der deutschen Bewohner konzentriert: Anders als Polen oder Litauer in Ostpreußen entwickelten nur sie eine spezifisch ostpreußische Identität, die eng mit ihrem nationalen Bewusstsein verbunden war. Trabas These ist dabei, dass dieses spezifisch deutsch-ostpreußischeSelbstverständnis nur unter den besonderen Bedingungen der Jahre zwischen 1914 und 1933 entstehen konnte. Der Erste Weltkrieg sei das Initiationsereignis für eine „qualitativ neue Konstruktion“ (S. 18) ostpreußischer Identität gewesen, die in die Breite der Bevölkerung gewirkt habe. Paradoxerweise habe der Versailler Vertrag, der die Stellung Ostpreußens durch die Abtrennung vom Deutschen Reich massiv geschwächt hatte, die Identität der Bewohner sowohl in regionaler als auch in nationaler Hinsicht enorm gestärkt. Als einzige deutsche Region wurde Ostpreußen gleich zu Beginn des Krieges von Gegnern besetzt, im bald mythologisierten Sieg von Tannenberg wieder von der russischen Besatzung befreit, später jedoch im Frieden von Versailles vom Deutschen Reich abgetrennt. Die im Friedensvertrag vorgesehenen Volksabstimmungen im südlichen Teil schien die Provinz in ihrer Integrität zu bedrohen, wurden dann aber zu einer Demonstration des nationalen Bekenntnisses. Das Gefühl der Bedrohung blieb durch die Insellage jedoch erhalten. Es bildete sich eine spezifisch ostpreußische Grenzlandmentalität aus, in der das Gefühl regionaler Besonderheit und nationaler Bedeutung eine spezielle Verbindung eingingen.

Auf der Grundlage umfassenden Archivmaterials sowie publizistischer und literarischer Quellen untersucht Traba in drei großen Teilen erst die Akteure und Träger des Identitätsdiskurses, dann seine zentralen Kategorien und schließlich die wichtigsten gesellschaftlichen Inszenierungen und öffentlichen Praktiken, die ihn zunehmend konsolidierten. Zentrale Kategorien des „Ostpreußentums“ waren nach Traba ‚Heimat‘, ‚Bollwerk‘ und ‚Krieg‘. Traba zeigt überzeugend, wie die Heimatideologie insbesondere durch die Abstimmungspropaganda und das dabei entstehende Netz von Heimatvereinen das gesellschaftliche Leben zunehmend dominierte, sich immer mehr auf ganz Ostpreußen bezog und gleichzeitig national aufgeladen war. Die ostpreußische Heimat wurde dabei als „Bollwerk des Deutschtums“ im slawischen Osten konstruiert. Damit verbunden waren die Motive der kulturellen Mission und des Kampfes, als deren historische Verkörperungen die Ordensritter galten. Die Ordensburgen materialisierten die historische Verankerung des Bollwerks-Gedanken in der Gegenwart und dienten als ästhetisches Vorbild und architektonisches Muster für den Wiederaufbau kriegszerstörter Städte und Dörfer. Das Programm der „Wiedergeburt aus Ruinen“ wurde dabei selbst zum Symbol deutscher zivilisatorischer Leistung im Osten. Folge, Ausdruck und Motor dieses national interpretierten Heimatbewusstseins war ein verstärktes regionalhistorisches Interesse, das sich u.a. in einem Aufschwung der Genealogie, in der Popularisierung von Heimatmuseen und in einer Begeisterung für archäologische Forschungen bemerkbar machte, die allesamt den überzeitlichen deutschen Charakter des Landes belegen sollten, sowie auch in der Wanderbewegung.

Der Krieg, dessen konkrete Erfahrung Traba vielleicht etwas zu ausschließlich an den Anfang des ostpreußischen Identitätsdiskurses stellt, wurde „wichtigster Bestandteil des Kollektivbewusstseins der ostpreußischen Gesellschaft“ (S. 42). Im Zentrum stand der mythologisierte siegreiche Abwehrkampf, dessen wichtigstes Symbol Tannenberg war. Neben zahllosen Soldatenfriedhöfen wurde das Tannenberg-Denkmal zum zentralen Bezugspunkt. Mit dem Tannenberg-Mythos verschmolz der Kult um den „Erlöser“ Hindenburg. Beide verkörperten Ostpreußens Kampf- und Abwehrbereitschaft und die Vision des Sieges. Stärker als die Tannenberg-Feiern, die stark politisiert waren, wurden jedoch die jährlichen Feiern an den zahlreichen Abstimmungsdenkmälern „zum zentralen Akt eines politischen Rituals, das alle sich zum ‚Deutschtum‘ bekennenden Einwohner vereinte“ (S. 425). Auch sie sollten die Bedeutung der „Treue zur Heimat“ demonstrieren und, insbesondere durch die Verknüpfung mit Sportveranstaltungen, die aktive Wehrhaftigkeit der Bevölkerung steigern. Sie besaßen darüber hinaus aber oftmals einen Volksfestcharakter und wirkten in höherem Maße integrierend, weil sie nicht an einen militärischen, sondern an einen zivilen Sieg der deutschen Bevölkerung erinnerten. Dem schlossen sich sogar die Sozialdemokraten an, die den Tannenberg-Feiern demonstrativ fernblieben. Insgesamt konstatiert Traba die zunehmende Dominanz einer „monolithischen“ völkisch-nationalen Richtung im ostpreußischen Identitätsdiskurs. Sie habe den Boden für die große Zustimmung, welche die Nationalsozialisten schon vor ihrer Machtübernahme 1933 in Ostpreußen genossen, bereitet, weil diese sich zahlreicher Elemente der bis dahin etablierten Konstruktion des „Ostpreußentums“ bedienen konnten.

Traba entfaltet eine beachtliche Materialfülle, mit der er äußerst kenntnisreich umgeht. Die Gliederung des Stoffes erscheint dabei nicht an jeder Stelle zwingend und hinterlässt auch hin und wieder weiße Flecken. Die Volksabstimmungen von 1920 und die damit verbundene Propaganda werden z.B. anders als die nachfolgende Erinnerungspflege kaum thematisiert. Auch das Kapitel „Geschlecht und ‚Ostpreußentum‘“ fällt eher bescheiden aus und schöpft die Möglichkeiten eines gender-orientierten Zugangs bei weitem nicht aus. Insgesamt jedoch gewährt das Buch einen tiefen Einblick in die Konstruktionsmechanismen ostpreußischer Identität.

Stephan Scholz, Oldenburg

Zitierweise: Stephan Scholz über: Robert Traba Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914–1933. Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew. Osnabrück: fibre, 2010. = Klio in Polen, 12. ISBN: 978-3-938400-52-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scholz_Traba_Ostpreussen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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