Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Carmen Scheide
Sergei I. Zhuk: Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985. Washington, D.C.: Woodrow Wilson Center Press; Baltimore, MD: The Johns Hopkins University Press, 2010. XVII, 440 S., Abb. ISBN: 978-0-8018-9550-0.
Die ambitionierte Monographie von Sergej Žuk ist ein anregender Beitrag zur Kultur-, Sozial- und Stadtgeschichte in der Sowjetukraine während der Brežnev-Zeit und bis zu den Reformen von Michael Gorbačëv. Der aus der Ukraine stammende und heute in den USA lebende Historiker untersucht verschiedene Phänomene der Massenkultur unter den Aspekten Kulturtransfer, Identitätsbildung und Wechselverhältnis zu ideologischen Vorgaben sowie staatlichen Organisationen. Damit legt er einen nicht nur für die sowjetische Geschichte innovativen Beitrag vor, sondern auch für das in der Geschichtswissenschaft relativ neue Forschungsfeld der Popkultur.
Bewusst wählt er mit der seit 1959 geschlossenen ukrainischen Stadt Dnepropetrovsk einen wenig erforschten Untersuchungsraum, um eine bestehende starke Fixierung auf Moskau und Leningrad zu durchbrechen, aber auch, um ein mikrohistorisches Modell für vergleichbare andere Orte zu entwickeln. Ausgangspunkt seiner Analysen ist die Beobachtung, dass westliche populäre Kultur seit den 1960er Jahren eine große, ungebrochene Faszination besonders auf Jugendliche ausübte.
Žuk stellt die These auf, dass sich die in Wellen auftretenden westlichen Kultureinflüsse sowohl auf Prozesse der Identitätsbildung als auch auf die politische Ideologie und ihre Popularisierung in der Bevölkerung auswirkten. Der KGB war trotz einer strengen Überwachung von Kulturkonsum und ‑distribution nicht in der Lage, die Faszination und Adaption westlicher Kulturimporte zu stoppen. Dies führte dazu, dass es immer wieder Konzessionen an Trends in der Massenkultur geben musste, indem etwa russische oder ukrainische Rockbands als weniger gefährdend im Vergleich zu den amerikanischen oder englischen Gruppen galten. Dies habe zu einem „unmaking of Soviet civilization before perestroika“ geführt (S. 6). Gleichzeitig seien einige der solchermaßen sozialisierten Jugendlichen nach dem Ende der Sowjetukraine später zu einer tragenden neuen Elite geworden.
Sergej Žuk knüpft an Diskussionen der britischen Cultural Studies und Jugendkulturforschung an – genannt werden Arbeiten von Hilary Pilkington, Thomas Cushman oder Ute Poigner - um nach der Rolle des lokalen kulturellen Kontextes zu fragen, in den die fremde Kultur eingebettet oder übersetzt wurde. Er betrachtet Alltagspraktiken im Umgang mit populärer Kultur, wobei westliche Kulturprodukte schwer zugänglich waren und deshalb besonders idealisiert wurden. Eine Partizipation an der begehrten und im Kalten Krieg offiziell diffamierten westlichen Massenkultur erfolgte durch den Erwerb von Konsumgütern oder die Übernahme von Modetrends. Es gab verschiedene, hierarchisch abgestufte Imaginationen des „Westens“: er begann aus der Sicht von Dnepopetrovsk bereits im westukrainischen L’viv, einer bedeutenden Drehscheibe für den Import von Platten, Zeitschriften oder Kleidung, gefolgt von Rumänien, Jugoslawien und dem kapitalistischen Westen. Dieser Aspekt verweist auf weiter zu untersuchende transnationale Beziehungen, besonders innerhalb des „Ostblocks“. Die vorliegende Studie basiert auf einer imponierenden Menge und Breite an unterschiedlichen Quellen: Dokumente aus ukrainischen und russischen Archiven, darunter zahlreiche KGB-Akten, zeitgenössische Printmedien und Publikationen, Tagebücher von damaligen Schülern und Studenten, ebenso selbst erhobene oral history-Interviews. Damit erfasst Sergej Žuk nicht nur die institutionelle Perspektive von KGB und Komsomol im Umgang mit Jugend- und Konsumkulturen, sondern vermittelt auch Einblicke in Akteursperspektiven und individuelle Praktiken. Besonders die Selbstzeugnisse stützen die Aussage, westliche Kultur habe die eigenen Identitätsentwürfe gespiegelt und eine Auseinandersetzung mit vorhandenen Vorgaben angeregt. Dies habe zu einer starken Abgrenzung gegenüber der staatlichen sowjetischen Kultur geführt, wohingegen nationale Identifikationen an Bedeutung gewonnen hätten.
Analytisch arbeitet Sergej Žuk mit der Kategorie Identität, worunter er pragmatisch nationale Zugehörigkeit, Altersgruppen, soziale Schichten und kulturelle Milieus versteht, ohne ausführlicher auf entsprechende methodische Fragen oder Forschungskontroversen einzugehen. Analog wird auch der bislang kontrovers diskutierte Begriff der Popkultur nicht weiter problematisiert; drei konkrete Untersuchungsfelder werden dafür angeführt werden: Literatur, populäre Musik und Filme im Fernsehen oder Kino. Hier wären weitere Reflexionen zum methodischen Vorgehen – auch bei der Erhebung und Auswertung der Interviews – und eine Positionierung innerhalb der Forschungsdebatten wünschenswert gewesen. Ebenso bleibt der Begriff des ukrainischen Nationalismus positiv besetzt, ohne auf verschiedene Ausrichtungen und weitere Einflüsse einzugehen.
Die Studie ist chronologisch-systematisch aufgebaut und orientiert sich an den Modewellen der populären Kultur von Jazz, Beat, Rock zu Disko und Punk. Zunächst beschreibt Sergej Žuk die Stadt Dnepropetrovsk und weist auf die bedeutende ortsansässige Zulieferindustrie für den Raketenbau hin (Južmaš), weshalb zur notwendigen Geheimhaltung 1959 die Schließung erfolgte. Durch die Konzentration hochqualifizierter Spezialisten bildete sich eine Elite heraus, die stark verwestlichte, da sie freien Zugang zu Forschungsergebnissen hatte und in der Sowjetunion reisen konnte, allerdings nicht ins Ausland. Diese Möglichkeit der Mobilität und Partizipation an Informationen bestärkte einen Kulturtransfer. Weiter besaßen audiovisuelle Medien eine wichtige Rolle, angefangen bei Radios in den 1960er Jahren. Es wurden für den Empfang von ausländischen Musiksendungen Apparate selber gebaut, weshalb der KGB auf das Übel eines Radio-Hooliganismus verwies. In der ersten Hälfte der 1970er Jahren erfolgte dann ein Leseboom, wo besonders Übersetzungen aus dem Ausland populär waren, danach folgte die Disko- und Tanzwelle.
Die Studie zeigt sehr gut auf, wie Staat und Partei auf soziale Praktiken reagieren mussten, auch wenn Trends in der Massenkultur oftmals von offizieller Seite mit Kampfbegriffen und Feindrhetorik wie „Zersetzung der sozialistischen Lebensweise“ oder „Sittenverfall“ belegt wurden. Dennoch verschoben sich zusehends Handlungsräume, da das staatliche Plattenlabel Melodija oder die Jugendzeitschrift „Rovesnik“ wichtige Informationen lieferten. Jedoch konnte die staatliche Produktion bestehende Konsumwünsche nur partiell befriedigen, weshalb ein lukrativer Schwarzmarkt entstand. Der KGB erstellte regelmäßige Berichte über die Stimmung unter Jugendlichen und wertete in großem Umfang Leserbriefe an ausländische Radiostationen aus. Der Verfasser geht nicht weiter darauf ein, dass der Konsum von Massenkultur zumindest bei einem Teil der Jugendlichen auch zu einer starken Entpolitisierung führte. Besonderen Profit aus den Begehrlichkeiten der Jugendlichen schlugen Komsomolorganisationen, die durch Mimikry und unverfängliche Etikettierung erfolgreich Tanz- und Musikklubs betreiben konnten. Auch wenn Jazz oder Rock zu hören war, sprach man von „Estrade“, der sowjetischen Version für Schlager. Es waren die bestehenden Eliten, die Popkultur als neue urbane Lebensstile einführten und zu einem Geschäftsmodell entwickelten.
Das Buch schließt an die Arbeiten von Artemij Troickij und Timothy Ryback aus den neunziger Jahren an und verweist auf die Bedeutung des Kulturtransfers auch an der „Peripherie“ und durch die Vermittlung privilegierter Schichten. Hier liefert das Buch wichtige Fragestellungen und Perspektiven für weitere Untersuchungen. Zudem regt Sergej Žuk überzeugend und inspirierend eine Neubewertung der Brežnev-Jahre an. Er liefert differenzierte Deutungsangebote zum gesellschaftlichen Aufbruch, zur Herausbildung ganz unterschiedlicher Milieus, die nicht länger vom Narrativ der Stagnation geprägt sind, sondern vielschichtige Prozesse in der Gesellschaft sowie zwischen Bürgern und Staat aufzeigen.
Zitierweise: Carmen Scheide über: Sergei I. Zhuk: Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985. Washington, D.C.: Woodrow Wilson Center Press; Baltimore, MD: The Johns Hopkins University Press, 2010. XVII, 440 S., Abb. ISBN: 978-0-8018-9550-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scheide_Zhuk_Rock_and_Roll_in_the_Rocket_City.html (Datum des Seitenbesuchs)
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