Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Carmen Scheide

 

Anna Lipphardt: Vilne. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte. Paderborn: Schöningh, 2010. 545 S., Abb., Tab. = Studien zur Historischen Migrationsforschung (SHM), 20. ISBN: 978-3-506-77066-0.

Die Kulturwissenschaftlerin Anna Lipphardt legt mit ihrer überarbeiteten Dissertation einen in vieler Hinsicht innovativen, methodisch und theoretisch anregenden Beitrag vor, der  mit dem  Klaus-Mehnert-Preis der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und dem Prix de la Fondation Auschwitz ausgezeichnet wurde. Sie selber bezeichnet die interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Studie als eine „plurilokale mobile Kulturgeschichte“, die den Forschungsfeldern Stadtgeschichte, transnationale Geschichte, Erinnerungs- und Migrationsforschung sowie jüdische Geschichte Osteuropas  gleichermaßen zuzuordnen ist. Vilne so der jiddische Name der Stadt war bis zum Zweiten Weltkrieg ein Zentrum der jüdischen Diaspora und Kultur, weshalb auch vom Yerushalayim de Lita gesprochen wurde. Hier existierte bis zum Holocaust eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden in Osteuropa mit einer 500-jährigen Geschichte, von der viele Menschen geprägt wurden. Durch den Zweiten Weltkrieg entstanden im Stadtraum zahlreiche Leerstellen, nachdem das kulturelle, soziale und religiöse jüdische Leben gewaltsam vernichtet worden war. Viele Überlebende wählten den Weg der Migration, doch bislang liegen wenige Studien darüber vor, wie ihre Lebensläufe bis zum heutigen Zeitpunkt verliefen, welche Bedeutung Vilne für sie besaß und wie Erinnerungsprozesse an jüdische Lebenswelten und ihre Vernichtung aussahen. Die Autorin folgte den Spuren der Menschen, die sich eng mit dem jiddischen Vilne verbunden sahen und führte Forschungen in New York, Israel und Vilnius durch.

Neben zahlreichen selbst durchgeführten Interviews fließt in die Arbeit eine breite Material- und Quellenbasis ein, wozu besonders Archivalien des YIVO und anderer amerikanischer und israelischer Archive zählen, ebenso Periodika, Schriften, Selbstzeugnisse, Tonträger und Feldforschungen. Die Kontakte zu den Zeitzeugen wurden durch Empfehlungen und das Netzwerk des YIVO hergestellt, wobei ein wichtiger Zugang zu den einzelnen Personen die Kenntnis ihrer Sprache war: Jiddisch mit Vilner Akzent. Anna Lipphardt reflektiert immer wieder ausführlich die Gesprächssituationen und ihre eigene Position als Forscherin, vermittelt detaillierte Einblicke in einzelne Lebensgeschichten, wodurch die Akteure nicht zu ‚Objekten‘ einer Untersuchung werden, sondern Experten ihres eigenen Lebens bleiben.

Die komplexen Themen sind in sieben Teile gegliedert,  durch die zwei Achsen verlaufen: eine Zeitachse, die die Geschichte jüdischer Kultur Vilnes vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute umfasst, und eine räumliche Achse, die die Hauptorte des Vilner jüdischen Lebens vor Ort und in Erinnerungskulturen miteinander verbindet.

Vorab werden zentrale Konzepte wie Raum, Diaspora, Kultur, Erinnern, Gedenken, Vergessen und Trauma auf der Basis aktueller Forschungsdebatten dargelegt, auf die in den einzelnen Kapiteln dann jeweils zurückgegriffen werden kann.

In einem zweiten Teil wird die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Vilne geschildert, deren jüdische Kultur- und Bildungsarbeit durch Simon Dubnovs Diaspora-Nationalismus angeregt und geprägt wurde. Während der Zugehörigkeit der Stadt zur Republik Polen in den Zwischenkriegsjahren wuchs der Antisemitismus und förderte eine stärkere Bindung an die eigene Gruppe, was besonders den jüdischen Jugendorganisationen einen großen Zulauf bescherte. Parallel setzte Auswanderung ein, wodurch transatlantische Familiennetzwerke entstanden. Als Vilne durch den Hitler-Stalin-Pakt im Oktober 1939 wieder Teil der Republik Litauen wurde, brachen massive Pogrome der polnischen Bevölkerung aus; zudem suchten jüdische Flüchtlinge aus Polen in der Stadt Zuflucht. Im August 1940 änderte sich der Status erneut, als Vilnius Teil der litauischen Sowjetrepublik wurde. Nur knapp ein Jahr später marschierten die Deutschen  ein. Als Reaktion auf die Ghettobildung und Massenvernichtung wurde im Januar 1942 die jüdische Widerstandsorganisation „Faraynikte Partizaner Organisatsye von Yitzhak Wittenberg“ gegründet. Am 23. September 1943 wurde das Ghetto aufgelöst; dieses Datum ging später in die transnationale Erinnerungskultur ein. Etwa 2000 Juden gelang die Flucht aus dem Ghetto, allerdings fanden sie weder bei nationalistischen Litauern noch bei polnischen Partisanen eine Aufnahme, weshalb nur der Weg zu den sowjetischen Partisanen blieb. Im Juli 1944 erfolgte die Befreiung der Stadt durch die Rote Armee.

Im dritten Teil wird die Migrationsgeschichte der Vilner Juden in den Jahren 1944 bis zum Einsetzen sowjetischer antijüdischer Kampagnen 1948 geschildert. Es gab Versuche, das jüdische Leben in Vilnius in Form eines Museum wieder zu beleben. Der Druck auf jüdische Kulturarbeit nahm aber beständig zu, weshalb kollektives Trauern und Erinnern weitgehend im Verborgenen stattfand. Für die Migranten existierten zwei wichtige Transitstationen, wobei die größte Landmannschaft von Vilnern sich zeitweise in Łódź befand. Displaced Persons aus Vilne in Lagern der westlichen Besatzungszonen orientierten sich an zionistischen Ideen und bereiteten die Reise nach Palästina vor.

Im vierten Teil wird die Vilner Diaspora, die aus etwa 2000 bis 3500 Überlebenden bestand, am Beispiel von New York und Israel geschildert. In Amerika trafen die Neuankömmlinge auf schon etablierte Landsmannschaften, die nicht mehr durch eine gemeinsame geographische Herkunft verbunden wurden, sondern sich durch die Erfahrung der Holocaust unterschieden. Das 1940 von Vilne nach New York ausgelagerte YIVO, das sich allgemein als Vertretung des osteuropäischen Judentums in Amerika sah, wurde zu einer zentralen Anlaufstelle für neu ankommende Vilner, die versuchten, Erinnerungen an die verlorene Heimat zu sammeln. Es wird die Gründung von verschiedenen Organisationen, die Geschichte ihrer Träger, Mitglieder und Tätigkeiten beschrieben und Einblick in Netzwerke vermittelt. Auch in Israel bildeten sich Vilner Verbände heraus, die sich zunächst um konkrete Alltagsfragen der Neuankömmlinge kümmern mussten. Erst in den 1960er Jahren setzte eine intensive Kultur- und Erinnerungsarbeit ein, da zuvor soziale und Integrationsfragen dringender zu lösen waren. In Form von Yizker-Büchern wurde an die ehemalige Gemeinde gedacht, ebenso wurden die Teilnehmer des bewaffneten Widerstands als Helden geehrt.

Der fünfte Teil beleuchtet die wenig bekannte Geschichte jüdischen Lebens in Vilnius während der Sowjetzeit, das vorwiegend in informellen, privaten Kreisen stattfand. Erst in der Perestroika konnte an das jüdische Erbe der Stadt durch das Anbringen von Schautafeln im ehemaligen Ghetto, die Umbenennung von Straßen und die Anerkennung von Ponar als Ort jüdischen Leidens erinnert werden. Im November 1991 erfolgte die Neugründung einer jüdischen Gemeinde in Litauen.

Der sechste Teil widmet sich Vilner Erinnerungsorten in Form von Friedhöfen, dem jüdischen Viertel und der legendären Partisanenhymne von Hirsh Glik („Zog nit keynmol“) , deren Genese und Tradierung geschildert wird. Dabei geht es um die Bedeutung der Vilner Erinnerungsorte, die maßgeblich vom Widerstand und Genozid geprägt sind, aber in komplexen Prozessen zwischen Gruppen und Akteuren ausgehandelt wurden. Im letzten Teil werden individuelle Erinnerungen in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, wobei auch auf die Frage nach der Transmission von Erinnerungen in Familien eingegangen wird. Dafür wurden Kinder von migrierten Vilner befragt, um mehr über Familien als Kommunikations- und Erinnerungsraum zu erfahren.

Die verschiedenen Vilner Landsmannschaften pflegten alle das Jiddische, was nach dem Zweiten Weltkrieg aber nicht mehr als progressiv oder wegweisend betrachtet wurde, sondern als integrationshemmend. Die Erinnerung an die Vilner Kultur erfolgte durch Individuen und Netzwerke, die sich dann zu Gruppen zusammenschlossen und Organisationen gründeten. Es wäre wünschenswert, wenn die zahlreichen in der Studie vorzufindenden Anregungen zur Erforschung von Migrationsprozessen und Erinnerungskulturen als translokale, transnationale Beziehungsgeschichte eine Fortsetzung in vergleichbaren Projekten fänden.

Carmen Scheide, Basel

Zitierweise: Carmen Scheide über: Anna Lipphardt: Vilne. Die Juden aus Vilnius nach dem Holocaust. Eine transnationale Beziehungsgeschichte. Paderborn: Schöningh, 2010. 545 S., Abb., Tab. = Studien zur Historischen Migrationsforschung (SHM), 20. ISBN: 978-3-506-77066-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scheide_Lipphardt_Vilne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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