Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Carmen Scheide
Jan Arend: Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion: Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung, Köln, Wien, Weimar: Böhlau 2011. 177 S. = Lebenswelten osteuropäischer Juden, Bd. 13. ISBN: 978-3-412-20802-8.
Die Grundzüge jüdischen Lebens in der Sowjetunion sind in der Forschung bekannt und teilweise bereits gut aufgearbeitet worden, etwa in den Studien von Zvi Gitelman, Yuri Slezkine, Amir Weiner oder Frank Grüner. Zeitlich thematisieren sie vornehmlich die Jahre der formalen rechtlichen Gleichstellung in der frühen Sowjetunion, die Behandlung als eine Nationalität mit einem eigenen autonomen Gebiet in Birobidžan seit 1931, die Shoah und den stalinistischen Antisemitismus in den Nachkriegsjahren zwischen 1948 und 1953. Für die spätere Sowjetunion sind Narrative über Ausgrenzung, Diskriminierung, Antizionismus seit dem Sechstagekrieg 1967 und erschwerte Migrationsbedingungen prägend für die Darstellungen jüdischer sowjetischer Geschichte. Bislang liegen wenige Studien über die sogenannte „schweigende Mehrheit“ (S. 18) sowjetischer Juden, ihr Alltagsleben und ihre Selbstwahrnehmungen vor. Der vorliegende Band bietet dazu interessante Quellen in Form von sorgfältig transkribierten Lebensgeschichten. Er umfasst insgesamt sieben biographische Selbstzeugnisse von Personen, die zwischen 1922 und 1952 geboren wurden und nach dem Ende der Sowjetunion nach Deutschland migrierten.
Die Interviews wurden 2007 mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Lörrach im Rahmen eines Forschungsseminars durchgeführt. Es fand am Historischen Seminar der Universität Basel unter Anleitung von Heiko Haumann statt; Jan Arend hat die Publikation vorbereitet und verfasst. Somit richtet sich der Blick auch auf bislang wenig beachtete Zeitzeugen, die Inneneinsichten in jüdische Lebenswelten und Selbstentwürfe während der Sowjetzeit vermitteln können. Vergleichbare Interviewprojekte wurden bislang in Rostock und Frankfurt/Main von Arkady Tsfasman und Dmitrij Belkin angeregt. Im Zentrum steht die Frage nach einem jüdischen Selbstverständnis, nach Interdependenzen zwischen Fremdzuschreibungen und Selbstwahrnehmungen im Verlauf der wechselvollen sowjetischen Geschichte. Bewusst ausgeblendet werden Migrationserfahrungen und Migrationsgeschichten, die ein neues Themenfeld darstellen und an anderer Stelle erforscht werden müssen. Methodisch knüpft die Analyse an aktuelle Debatten der Jewish Studies, Selbstzeugnis- und Erinnerungsforschung an. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: eine ausführliche methodische und historisch-kontextualisierende Hinführung und die eigentlichen erzählten Lebensgeschichten. Zu jeder narrativen Biographie gibt es eine sorgfältige kommentierte Einführung.
Sowohl Oral history-Quellen wie auch Erinnerungen stellen eine methodische Herausforderung dar, da sie nicht die Vergangenheit an sich abbilden, sondern subjektive Wahrnehmungen und Deutungen von Ereignissen schildern. Jedoch verweisen sie oftmals auf Geschehnisse, die in normativen Akten nicht festgehalten wurden. Zudem spiegeln individuelle Memoiren kulturelle Normen und Referenzebenen, zeigen also in Anlehnung an Maurice Halbwachs größere soziale Rahmungen auf. Der Verfasser Jan Arend reflektiert in Bezug auf Selbstzeugnisse Kritik und Zugänge, um aufzuzeigen, wie man von der Quellenerhebung zur Analyse gelangt. Zudem bietet er bereits profunde Interpretationsansätze und weitere Forschungsfragen an. Allgemein bestätigen die Lebensgeschichten das dauerhaft ambivalente Verhältnis zwischen sowjetischer Politik und jüdischen Sowjetbürgern und -bürgerinnen. Der erlebte Antisemitismus wird zu einem wichtigen Deutungsmuster der eigenen Erfahrungen. „Bei uns zu Hause gab es keine Dinge, die darauf hinwiesen, dass wir Juden waren“, (S. 104) erzählt die 1952 in Odessa geborene Frau K. Damit benennt sie exemplarisch ein typisches Phänomen: Judentum in der Sowjetunion basierte kaum noch auf kulturellen oder religiösen Praktiken, sondern galt als eine Nationalität, hier als „anhaftendes Judentum“ benannt. Solchermaßen war diese administrative Kategorie eine Fremdzuschreibung; erst in den Jahren der Perestrojka war eine Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln möglich. Oftmals erfuhren Juden einen Ausschluss aus einer imaginierten Mehrheitsgesellschaft, auch wenn sie selber sich als Teil von dieser verstanden. Als Reaktion auf die fremdbestimmte Andersartigkeit existierten vielfältige Strategien zwischen Assimilation und Widerstand. In Anlehnung an das forschungsleitende Konzept des „marginal man“, das in der US-amerikanischen Immigrationsforschung diskutiert wird, argumentiert Jan Arend, Juden in der Sowjetunion hätten einen Mittelweg beschritten. Sie seien Grenzgänger gewesen, die weder vollkommen ausgeschlossen noch inkludiert waren (S. 35). Ihr Jüdischsein sei vor allem eine administrative Kategorie der Nationalität im Pass gewesen, die aber auch kulturelle und soziale Folgen gehabt habe. Gerade durch die Migration habe sich die Selbstwahrnehmung von einer Entfremdung und Marginalisierung zu einer positiven jüdischen Identität entwickelt.
Zitierweise: Carmen Scheide über: Jan Arend: Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion: Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung, Köln, Wien, Weimar: Böhlau 2011. 177 S. = Lebenswelten osteuropäischer Juden, Bd. 13. ISBN: 978-3-412-20802-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scheide_Arend_Juedische_Lebensgeschichten.html (Datum des Seitenbesuchs)
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