Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Kurt Scharr
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Hrsg. von Karin Orth und Willi Oberkrome. Stuttgart: Steiner, 2010. 549 S., Tab. = Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 4. ISBN: 978-3-515-09652-2.
Inhaltsverzeichnis:
http://d-nb.info/1002406099/04
Seit gut zwei Jahrzehnten beschäftigen sich Vertreter und Vertreterinnen der Geschichtswissenschaften intensiv mit der Erarbeitung von Forschereinzelbiographien verschiedenster Disziplinen aus der Periode des Nationalsozialismus und bemühen sich dabei um deren jeweilige gesellschaftlichen Kontextualisierung bis hin zur Ausleuchtung der persönlichen Verstrickung. Wie sich zeigte, führte schon der Aufstieg des Wilhelminischen Deutschland in vielen Bereichen der Forschung zu einer zunehmenden Nationalisierungsbewegung zunächst noch einzelner Proponenten mit den deklarierten Zielen eines z.T. aggressiv expandierenden Staates. Zwischenkriegszeit und Nationalsozialismus ließen in der allgemeinen Beschäftigung mit dem Dritten Reich die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik unter einem neuen Blickwinkel erscheinen. Die institutionalisierte Selbstorganisation der Wissenschaft bzw. ihrer Fördereinrichtungen (abseits der Universitäten und Akademien) wurde innerhalb dieses Ansatzes jedoch kaum an zentraler Stelle thematisiert und wenn, dann lagen die gesetzten Schwerpunkte der Studien nach wie vor auf der Betrachtung einzelner Forscherpersönlichkeiten (Beitrag Walker, S. 17 f.).
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft als eine der führenden Institutionen der Wissenschaftsförderung in der Bundesrepublik initiierte daher im Jahr 2000 ein breit angelegtes Vorhaben zur Erforschung ihrer eigenen Geschichte seit der Gründung der Notgemeinschaft 1920, mit einem Schwerpunkt auf der Periode der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Deutschlands. Mittlerweile – das Projekt konnte 2008 abgeschlossen werden – sind daraus eine Vielzahl von Einzelstudien sowie Tagungsbände von sechs Symposien erwachsen, die sich dieses komplexen Themenkreises annehmen. (Die Ergebnisse sind im Franz-Steiner-Verlag Stuttgart in der Reihe ‚Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft‘ sowie in den ‚Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft‘ veröffentlicht.)
Karin Orth und Willi Oberkrome legen mit dem Band 4 der „Beiträge“ nunmehr die Synthesen der 2008 in Berlin stattgefundenen Abschlusstagung des Gesamtprojektes vor. In sechs Hauptkapiteln wird von insgesamt 35 Autoren jeweils ein fundierter Einblick in die Forschungsergebnisse zur Institution DFG als solcher (Kap. II Geschichte der Institution), zu den großen Wissenschaftsfeldern (III. Natur- und Technikwissenschaften; IV. Medizingeschichte und Biowissenschaften; V. Geistes- und Sozialwissenschaften) sowie zur Kontextualisierung des Gesamtsystems am Beispiel führender wie vielfach typischer Forscherpersönlichkeiten, aber auch darüber hinausgehend zu institutionellen wie gesellschaftlichen Vernetzungen aufgezeigt (VI. Wissenschaft, Wissenschaftspolitik und die DFG). Zusammenfassende wie reflektierende Expertenkommentare außenstehender Fachwissenschaftler am Schluss der Kapitel II–IV ermöglichen zudem einen Quereinstieg in die detailreiche Problematik. Dass solche für die Kapitel V und VI fehlen, erscheint allerdings inkonsequent.
Inhaltlich wird schon in den einleitenden Aufsätzen die Grundstruktur der frühen Forschungsgemeinschaft deutlich. Über Jahrzehnte hinweg prägten einzelne Ordinarien diese Institution und ihre Geisteshaltung, sodass es wenig wundert, wenn in der Diskussion um eine breite akademische Mitbestimmung am Beginn der 1970er Jahre der Vorwurf gegenüber der DFG laut wurde, letztlich ein „Reservat der Ordinarien“ zu sein (Beitrag Wagner S. 23 f.). So zielte die institutionelle Logik dieser Einrichtung bei der Bewertung von Forschungsanträgen während der ersten Jahrzehnte ihrer Existenz weit weniger auf Inhalte denn auf die innerfachliche Reputation des jeweiligen Antragstellers selbst ab (Beiträge Wagner S. 25; vom Bruch S. 50). Die Verantwortlichen schufen dabei nicht nur einen sozialen Raum für sich und ihre Tätigkeiten, sie verbanden – über die Institution hinausgehend – Ideale einer Leistungs- und Werteelite miteinander, indem das „säkulare Krisengefühl der Hochschulforscher“ nach 1918 mit dem Untergang der alten Ordnung zu einem bestimmenden Amalgam noch weit über 1949 hinaus verschmolz (Beitrag Wagner, S. 29 u. S. 353).
Letztlich bietet die Breite des diesem lesenswerten Tagungsband zugrunde gelegten Gesamtforschungsvorhabens nicht nur einen bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der DFG selbst, sondern v.a. auch eine methodisch innovative und interdisziplinär angelegte Reflexion zum Funktionieren und der Rolle von Institutionen an sich.
Zitierweise: Kurt Scharr über: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Hrsg. von Karin Orth und Willi Oberkrome. Stuttgart: Steiner, 2010. 549 S., Tab. = Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 4. ISBN: 978-3-515-09652-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharr_Ort_Deutsche_Forschungsgemeinschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)
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