Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Kurt Scharr
Urban Spaces after Socialism. Ethnographies of Public Places in Eurasian Cities. Ed. by Tsypylma Darieva, Wolfgang Kaschuba und Melanie Krebs. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2011. 325 S., Abb. = Eigene und fremde Welten, 22. ISBN: 978-3-593-39384-1.
Inhaltsverzeichnis:
http://d-nb.info/1009106880/04
Die Erkenntnis, dass sich mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 unter der roten Flächensignatur, wie sie in Schulatlanten gemeinhin über Jahrzehnte für die UdSSR Verwendung fand, eine Vielzahl alter/neuer Staaten und Identitäten hat entdecken lassen, mag für manche damals überraschend gewesen sein. Die Stadtforschung innerhalb der deutschen Osteuropaforschung spiegelt diese Erkenntnis – mehr als 20 Jahre nach der Wende – immer noch nicht entsprechend wieder. Das liegt einerseits wohl auch daran, dass der gesamte Forschungszweig, der einen Gutteil seiner Existenzberechtigung aus dem Kalten Krieg bezog, mit 1991 in eine Krise geraten war und dass sein Untersuchungsgegenstand in seiner räumlichen Abgrenzung unklar wurde. Die deutschsprachige Stadtforschung innerhalb des postsowjetischen Raumes gehört wiederum in das weit gesteckte Feld der Transformationsforschung und ist nach wie vor mit wenigen Ausnahmen auf die dominierenden Metropolen fokussiert. Allen voran findet sich Moskau, mit beträchtlichem Abstand erst folgen vereinzelt St. Petersburg, Minsk, Kiew u.a.
Urbane Zentren „Eurasiens“, wie sie im Blickfeld des vorliegenden Sammelbandes stehen, werden weit weniger beachtet. Umso schätzenswerter ist daher das Anliegen der Herausgeber einzuordnen, diese ‚übersehenen‘ städtischen Räume zum Gegenstand eines groß angelegten Sonderforschungsbereiches zu machen (SFB 640, „Changing Representations of Social Orders“; Teilprojekt „Identity Politics in the South Caucasus: National Representation, Postsocialist Society and Urban Public Space“, Projektleiter Wolfgang Kaschuba). In zwölf Hauptkapiteln bzw. Beiträgen bündelt sich nicht nur ein Mix an Städten (Taschkent, Gyumri-Leninakhan, Tiflis, Baku, Jerewan, Osch, St. Petersburg), die auf verschiedenste Weise ins Blickfeld gerückt und analysiert werden. Hier treffen auch die Ergebnisse junger Forscherinnen und Forscher aufeinander, die sich vielfach durch eine phänomenologische Herangehensweise in ihren Studien auszeichnen und z.T. aus den betrachteten Städten selbst stammen bzw. mit ihnen eine lange Beziehung aufgebaut haben. Ergänzend dazu stehen Analysen ‚westlicher‘ Kolleginnen und Kollegen.
Die in Betracht gezogenen Städte verwandelten sich ihrer Mehrzahl nach 1991 von einer innersowjetischen Peripherie ohne entsprechende eigenständige Kontakte über die UdSSR hinaus – mit den für diese typischen internen hierarchischen Abstufungen (z.B. Taschkent als Hauptstadt des sowjetischen Ostens, S. 33) – zu nationalen Zentren neu gegründeter, nunmehr souveräner Staaten mit jeweils spezifischen globalen Vernetzungen. Nicht selten musste seither der öffentliche Raum dieser urbanen Zentren als verordneter ‚diskursiver‘ Raum für neue Meistererzählungen staatlicher Identitäts- und Legitimitätskonstruktionen herhalten (S. 12). Oftmals lösten dabei ‚neue‘ zentralstaatliche Vorgaben alte sowjetische Ideologien, die sich im städtischen Raum baulich wie sozial manifestierten, nahezu übergangslos ab (S. 27). Nach bewährtem Muster wurden dabei Plätze umfunktioniert. Die dem sowjetischen Parteifunktionär Sergej M. Kirov gewidmete monumentale Statue in Baku ist dafür durchaus beispielgebend. Sie musste 1995 einer nicht weniger massiv präsenten und ideologisch richtungsweisenden Moschee der Märtyrer weichen (S. 170). Abseits dieser ideologisch überfrachteten und seitens der Politik stets fokussierten zentralen urbanen ‚Plätze‘ wuchsen jedoch auch private Freiräume einer sich z.T. diametral zur Staatsmacht anders verstehenden Gesellschaft heran. Freilich hatten diese teilweise bereits in der Sowjetunion ihren spezifischen Raum in den Städten (S. 52) oder sie entstanden erst im Nachhinein als sich hartnäckig gegenüber den Behörden behauptende (fallweise auch nostalgische) Gegenwelten, wie das Beispiel des St. Petersburgers Flohmarktes illustriert (vgl. Beitrag O. Pachenkov). Der Facettenreichtum dieser urbanen Zentren findet – wie Alaina Lemon im Nachwort herausstreicht – die Gemeinsamkeit eines Roten Fadens allerdings auch in den oftmals ähnlichen gegenwärtigen Wahrnehmungskonzepten ihrer Bewohner: der Verlust einer kosmopolitischen Welt (durch den Zerfall der UdSSR und der mit einer ethnischen Homogenisierung einhergehenden Nationalisierung der Gesellschaft des neuen Staates); die Angst vor dem ‚ländlichen Anderen‘ (durch die Zuwanderung) und der gesellschaftliche Dauerdiskurs zwischen Abriss von Altem und Um- bzw. Neubauten.
Wenngleich die einzelnen Beiträge bestehende methodische Konzepte (zumeist ‚westlicher‘ Stadtforschung) nicht immer systematisch aufgreifen und ihre eigene Analyse dazu nur sehr vage in einen Kontext stellen, so erfrischt doch die ‚freche‘ lebensweltliche Herangehensweise der Autorinnen und Autoren. Das Spazieren in der Stadt wird zu einem Betrachten, Sammeln, Reflektieren und Analysieren. Der umfangreiche einleitende Beitrag der Mitherausgeber T. Darieva und W. Kaschuba sowie das schon erwähnte Nachwort liefern hierfür die nötige inhaltliche Klammer. Ausgehend von diesen ‚ersten‘ ideografischen Befunden städtischer Befindlichkeiten wie Verfasstheiten im postsowjetischen Raum bleibt es spannend, welche neuen Fragestellungen und Einsichten sich, ausgehend von diesem Querschnitt, in Zukunft gewinnen lassen werden – durchaus zur Bereicherung bzw. Erweiterung der ‚westlichen‘ Stadtforschung! Die Berücksichtigung regionaler Besonderheiten im Kontext einer auch in die Vergangenheit reichenden Zeitachse, mit den darin zu entdeckenden oftmals wirkmächtigen Persistenzen, Kontinuitäten und Brüchen, sind dabei grundlegender Bestandteil der vorliegenden Analysen, aber zugleich auch notwendiger Maßstab ihrer Qualität.
Zitierweise: Kurt Scharr über: Urban Spaces after Socialism. Ethnographies of Public Places in Eurasian Cities. Ed. by Tsypylma Darieva, Wolfgang Kaschuba und Melanie Krebs. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2011. 325 S., Abb. = Eigene und fremde Welten, 22. ISBN: 978-3-593-39384-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharr_Darieva_Urban_Spaces_after_Socialism.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Kurt Scharr. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.