Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Daria Sambuk

 

Elisa M. Becker: Medicine, Law, and the State in Imperial Russia. New York: Central European University Press, 2011, 399 S. ISBN: 978-963-9776-81-4.

Zu den markantesten Veränderungen im Zarenreich des 19. Jahrhunderts zählt neben der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Einführung von Selbstverwaltungsorganen die Justizreform des Jahres 1864. Sie bildete einen wichtigen Kern jener umfassenden Modernisierungspläne für Russland, die unter der Herrschaft Alexanders II. in die sogenannten Großen Reformen mündeten. Die Justizreform orientierte sich an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und brachte radikale Neuerungen: Sie proklamierte die Unabhängigkeit der Richter, machte Gerichtsverfahren mündlich und öffentlich, rief Geschworene in den Gerichtssaal, schuf eine Advokatur und ersetzte schließlich das Inquisitionsverfahren durch den kontradiktorischen Prozess.

Dem letztgenannten Aspekt ist die Studie von Elisa M. Becker gewidmet, die auf ihrer an der Universität von Pennsylvania entstandenen Dissertation basiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Begegnung zweier Berufsgruppen, die im Gerichtssaal aufeinandertrafen und in der Fachliteratur in der Regel getrennt behandelt werden: Juristen und Mediziner. Becker fragt nach dem Einfluss, den die Interaktion zwischen den beiden Professionen einerseits und den staatlichen Interessen andererseits auf die Ausgestaltung der Justizreform hatte, und gelangt zu der These, Mediziner und Juristen seien durch eine professionelle Mission verbunden gewesen und hätten ihr „wertneutrales professionelles Ethos“ als Mittel zur Transformation des Staates voranzubringen versucht. Die meiste Aufmerksamkeit gilt dabei dem Wandel des medizinischen Berufsstands.

Mediziner wurden durch die neue Prozessordnung in ihrer professionellen Identität herausgefordert und mussten sich neu definieren. Gleichzeitig kristallisiert sich in der Rolle des Gerichtsmediziners der Professionalisierungsprozess der Mediziner im Zarenreich. Im 18. und im frühen 19. Jahrhundert umschrieb der Begriff des Staatsbeamten nicht nur den Status der Mediziner, sondern er traf wohl auch auf ihr Selbstverständnis zu. In den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs erkennt man in den Ärzten dagegen Experten, die auch von ihren Zeitgenossen als solche wahrgenommen werden. Den Ausgangspunkt und Kern dieses Wandels sieht Becker in der Rolle der Ärzte als Gerichtsmediziner, die für das Selbstverständnis der gesamten Berufsgruppe konstitutiv gewesen sei.

Während der Gerichtsmediziner in der alten, inquisitorischen Form des Gerichtsverfahrens eine untergeordnete Rolle spielte, hob ihn das kontradiktorische Verfahren auf eine Stufe, die mit jener des Richters vergleichbar war: Beide hatten die höchste Autorität in ihrem Fachbereich und erkannten diese gegenseitig an. Doch die Reform brachte für die Mediziner auch einen gewissen Verlust mit sich: Sie hob die Unhinterfragbarkeit der medizinischen Expertise auf. Der Gerichtsmediziner musste nun seinen Befund vor einem Publikum vortragen und den Richter sowie die Geschworenen von dessen Richtigkeit überzeugen.

Indem die Reform das Überzeugen zum wesentlichen Element der rechtlichen Entscheidungsfindung machte, veränderte sie auch die Wahrnehmung des medizinischen Wissens. Einzig die Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens konnte dem Gerichtsmediziner Glaubwürdigkeit verleihen. Dieser Wandel brachte Mediziner dazu, das unabhängige, „objektive“, einzig den Gesetzen der Wissenschaft gehorchende Vorgehen zum neuen Berufsethos zu erheben, das in Gerichtsverhandlungen vor der Öffentlichkeit expliziert und perpetuiert wurde.

Becker wendet sich gegen die Vorstellung, das Selbstverständnis der Mediziner im späten Zarenreich habe sie in Opposition zur Staatsmacht gebracht, und betont, dass sie ihre Rolle innerhalb staatlicher Strukturen ausgeformt hätten. Doch auch wenn diese Beobachtung zutreffend scheint, vermag Beckers Negieren einer oft distanzierten Haltung vieler Mediziner gegenüber der Autokratie weniger zu überzeugen. Es mutet sogar widersprüchlich an, denn Becker stellt gegen Ende ihrer Untersuchung fest, dass Mediziner und Juristen zunehmend bemüht waren, die Gerichtspraxis vor staatlichen Eingriffen zu schützen und durch ihre Rolle als Reformvisionäre und als Wächter der sozialen Ordnung das Monopol des Autokraten auf diesem Gebiet gefährdeten.

Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da die Geschichte der Gerichtsmedizin in Russland jedoch zu den weniger erforschten Gebieten gehört, ist der Leser dankbar für den Vorlauf, der bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückreicht. Die ausführliche Beschäftigung mit der Zeit vor den 1860er Jahren ist bei Becker allerdings auch programmatisch, möchte die Autorin doch die Reform des Jahres 1864 nicht als eine tiefe Zäsur erscheinen lassen, sondern, im Gegenteil, ideelle Kontinuitäten betonen. In zwei weiteren Punkten richtet sich Becker gegen ältere Forschungstendenzen: Sie unterstreicht die innere Logik der professionellen Entwicklungen im Zarenreich anstelle einer unvollständigen Übernahme von westeuropäischen Mustern und sieht eine geringere Kluft zwischen Staat und Gesellschaft als oft üblich.

Die Darstellung gesetzlicher Regelungen verbindet Becker mit Einblicken in die alltägliche Praxis, die illustrierend eingesetzt werden. Indem die Studie einzelne Debatten im Detail nachzeichnet, bringt sie dem Leser das zeitgenössische Verständnis von zentralen Begriffen und Phänomenen nahe. Selten hat man die Möglichkeit, Diskussionen im Vorfeld einer Reform so genau nachzuvollziehen. Dabei ist es äußerst wohltuend, dass Becker nicht versucht, die vorgefundenen Standpunkte in das Schema „liberal“ versus „konservativ“ hineinzupressen. Ein weiteres Verdienst des Buches bildet die implizit vergleichende Perspektive, die das russische Beispiel jedoch nicht mit einer westlichen Schablone abgleicht, sondern in einem breiten Spektrum unterschiedlicher Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent verortet. Eine eingehende Analyse des Zusammenhangs zwischen dem Fortschrittsdiskurs, den Reformdebatten und medizinischen Themen bleibt Becker, die die Neukonzipierung der Rolle der Gerichtsmediziner tief im geistigen und sozialen Klima der 1860er Jahre verankert sieht, allerdings schuldig.

Zum Schluss sei ein technischer Kritikpunkt erlaubt: Ein Quellen- und Literaturverzeichnis hätte die Benutzung des Buches deutlich erleichtert und eine bessere Orientierung in den verwendeten Materialien ermöglicht.

Insgesamt ist Becker ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Medizin im Russischen Reich gelungen, gerade weil sie sich einem auf den ersten Blick entlegenen Aspekt widmet und es schafft, seine eminente Bedeutung für die Professionalisierung der Mediziner hervorzuholen.

Daria Sambuk, Halle (Saale)

Zitierweise: Daria Sambuk über: Elisa M. Becker: Medicine, Law, and the State in Imperial Russia. New York: Central European University Press, 2011, 399 S. ISBN: 978-963-9776-81-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sambuk_Becker_Medicine.html (Datum des Seitenbesuchs)

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