Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maike Sach

 

Przemysław Wiszewski: Domus Bolezlai. Values and Social Identity in Dynastic Traditions of Medieval Poland (c. 9661138). Leiden, Boston: Brill, 2010, 592 S. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 4501450, 9. ISBN 978-90-04-18142-7.

Schon seit geraumer Zeit werden in der internationalen kulturwissenschaftlich orientierten Forschung Probleme des kollektiven Gedächtnisses, der symbolischen Kommunikation sowie die verschiedenen Formen und Praktiken der Memoria und ihre jeweiligen Funktionen insbesondere für Gesellschaften der Vormoderne lebhaft und mit Gewinn diskutiert. An diese Debatten möchte der Breslauer Mediävist Przemysław Wiszewski mit seiner Habilitationsschrift über Wertvorstellungen und kollektive Identitäten in dynastischen Traditionen der Piasten anschließen, die 2008 in polnischer Fassung erschienen ist und nun in englischer Übersetzung vorliegt.

Für Wiszewski sind im Kontext seiner Arbeit vor allem sinntragende Ordnungen von Interesse, deren genauere Untersuchung Antworten auf Fragen rund um die Entstehung von Gruppenidentitäten im frühen und hohen Mittelalter versprechen. „Tradition“ dient dem Verfasser dabei als Schlüsselkonzept: Er definiert Tradition über ihre Funktion, die er in Anlehnung an Ideen Paul Ricœurs in erster Linie als einen Akt der Kommunikation begreifen möchte. Ziel und Zweck der Tradition sei es zunächst, Werte zu vermitteln, die wiederum entscheidend die Weltwahrnehmung der Menschen bestimmten, die sich als Angehörige der herrschenden Dynastie, der sich formierenden Elite oder des beherrschten Volkes mit den tradierten Inhalten identifizierten. Dabei zeitige die Tradition nicht nur Einfluss auf die Entstehung von Wertesystemen und deren weitere Ausdifferenzierung, sondern auch auf die Bildung eines kollektiven Gedächtnisses und die Entwicklung von Gruppenidentitäten. Wiszewski möchte das Entstehen einer dynastischen Tradition für die frühe Piastenzeit und deren Bedeutungen und Funktionen für die Angehörigen der herrschenden Familie wie auch für die Beherrschten bis in die Zeit Bolesławs III. Krzywousty (10861138) untersuchen.

Im ersten Abschnitt seiner Arbeit versucht Wiszewski, anhand des klassischen Katalogs teilweise nur fragmentarisch überlieferter Quellen, die schlaglichtartig über verschiedene Ereignisse der Frühzeit der polnischer Geschichte und der ersten Herrscherdynastie Auskunft gegen können, Vorstellungen über piastische Herrscherpersönlichkeiten sowie über piastische Herrschaft herauszuschälen. Dabei begibt er sich auch auf die Suche nach einem möglichen Widerhall ursprünglich aus polnischem Milieu stammender, mutmaßlich mündlich vermittelter Traditionskerne in der chronikalischen Überlieferung aus dem Reich, diskutiert die Anfänge der polnischen Annalistik und versucht, einen Katalog an historischen Informationen zu rekonstruieren, die als Material für die Formung früher Geschichtsbilder dienen konnten.

In Gestalt der Chronik des Gallus Anonymus, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts im Umfeld des Hofes Bolesławs III. Krzywousty entstand, analysiert Wiszewski einen für seine Untersuchungsabsicht zentralen Quellentext, der die früheste große zusammenhängende Erzählung über Herkunft und Taten der polnischen Herzöge darstellt. Er untersucht dabei, wie Gallus Anonymus die einzelnen Herrscher und Angehörigen der Dynastie jeweils präsentiert hat. Daneben betrachtet der Verfasser die Formen und Funktionen der von ihm identifizierten dynastischen Tradition sowie den spezifischen Traditionswert der dargestellten Protagonisten, von denen insbesondere Bolesław Chrobry als vorbildlicher Herrscher gezeichnet worden sei. In diesem, vor allem der Schaffung und Implementierung von Narrativen gewidmeten Teil seiner Arbeit behandelt Wiszewski auch das Bild, das in den verschiedenen überlieferten Viten des in Pommern missionierenden Bischofs Otto von Bamberg von Bolesław III. Krzywousty, seiner Kirchen- und vor allem seiner Missionspolitik entworfen worden ist.

Neben Schriftquellen, die den überwiegenden Teil seiner Quellenbasis ausmachen, hat Wiszewski u. a. auch ikonographisches und onomastisches Material bearbeitet. Dieses wird insbesondere im dritten Teil seines Werkes gewürdigt, in dem es um die Tradition als Prozess der Kommunikation und ihren konkreten Nachweis im Handeln der historischen Akteure geht. Unter diesem Vorzeichen widmet sich Wiszewski zunächst den überlieferten Praktiken in der engeren Herrscherfamilie selbst, analysiert die Namenswahl für Neugeborene, Heiratsstrategien und die Rolle der Heiligenverehrung sowie deren jeweilige Bedeutung für die Ausbildung dynastischer Traditionen. Der Bereich der Herrschaft und Machtausübung und der damit verbundenen Formen symbolischer Kommunikation und symbolischen Handelns – ggf. an Orten mit symbolischer Bedeutung – wird anschließend ausgeleuchtet. Ferner untersucht Wiszewski das Verhalten verschiedener Angehöriger der Dynastie auf dem Feld fürstlicher Stiftungen zur Sicherstellung der Memoria.

Als Ergebnis seiner Arbeit stellt Wiszewski fest, dass in keiner der analysierten Quellen ein geschlossenes, offizielles Narrativ dynastischer Tradition für die Geschichte der Piasten insgesamt formuliert worden sei. Angesichts historischer Wechselfälle und Katastrophen für die fürstliche Herrschaft (man denke an die gentil-religiöse Reaktion im zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts) und der damit verbundenen, nicht immer günstigen äußeren Rahmenbedingungen für Traditionsbildungen sei eine dynastische Tradition innerhalb der fürstlichen Familie nur mit geringer zeitlicher Reichweite über wenige Generationen nachzuweisen. Zu Beginn könne man keine Trennung zwischen einem eher privaten bzw. familiären Gedächtnis und einem eher offiziellen beobachten. Die Überlieferung zu den einzelnen Herrschern habe allerdings ein Gerüst für die Entwicklung eines kollektiven Gedächtnisses in Form einer eigenen Annalistik geboten, als deren Träger insbesondere Angehörige des Klerus anzusprechen seien. Wiszewski registriert einen Wandel in der Präsentation der Geschichte der Angehörigen der Dynastie: In der Frühzeit habe diese zunächst eher eine synchrone Dimension besessen, in der die zeitgenössischen Ereignisse rund um die handelnden Personen im Vordergrund gestanden hätten. Später sei eine diachrone Dimension hinzugetreten, die die einzelnen Persönlichkeiten als in der Geschichte verwurzelt präsentierte und daher – gemäß dem Muster in der übrigen zeitgenössischen mitteleuropäischen Chronistik – auch Fragen nach der Herkunft der Dynastie beantworten musste. Laut Wiszewski ließen sich Änderungen auch an neuen Heiratsstrategien, am Aufkommen neuer Typen der Memoria und neuer Heiligenkulte ablesen. Diese Änderungen hätten dabei den Bedürfnissen einer Gesellschaft im Wandel entsprochen, deren Mitglieder sich als Polen zu fühlen begannen und in der den Angehörigen der Dynastie selbst wie auch der sich formierenden politischen Elite vorbildliche Verhaltensweisen als handlungsleitende Muster dienen sollten.

Der englischen Übersetzung wurden zur Orientierung genealogische Übersichten und eine Zeittafel mit besonders wichtigen Ereignissen sowie drei Karten beigegeben, die der polnischen Ausgabe fehlen. Zu bedauern ist jedoch, dass auf das Bildmaterial, welches die polnische Ausgabe in guter Qualität bringt und das vor allem die ikonographischen Aspekte der Arbeit veranschaulicht, verzichtet worden ist. Die Exkurse, die in der polnischen Fassung u. a. bestimmte Fragen der Überlieferung piastischer Traditionen insbesondere bei Thietmar von Merseburg, aber auch in einigen anderen Zeugnissen behandeln, sind für die Übersetzung offenbar in gestraffter Form in den ersten Teil der Arbeit eingearbeitet worden und haben auf diese Weise zumindest teilweise Eingang in den englischen Text gefunden.

Wiszewski ist eine Studie gelungen, deren Ergebnissen man im Einzelnen angesichts einer ggf. differierenden Würdigung der überlieferten Quellenzeugnisse vielleicht nicht immer völlig zustimmen wird, die aber dennoch sehr anregend ist und die Diskussion um Beispiele aus der Geschichte des polnischen Mittelalters nicht nur bereichert, sondern sicher auch beleben wird.

Maike Sach, Kiel/Mainz

Zitierweise: Maike Sach über: Przemysław Wiszewski: Domus Bolezlai. Values and Social Identity in Dynastic Traditions of Medieval Poland (c. 966–1138). Leiden, Boston: Brill, 2010, 592 S. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 9. ISBN 978-90-04-18142-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sach_Wiszewski_Domus_Bolezlai.html (Datum des Seitenbesuchs)

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