Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maike Sach

 

Ritualisierung politischer Willensbildung. Polen und Deutschland im hohen und späten Mittelalter. Hrsg. von Stefan Weinfurter, Bernd Schneidmüller und Wojciech Fałkowski. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. XII, 275 S., 6 Abb., 4 Ktn., Tab. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 24. ISBN: 978-3-447-06389-0.

Im Mai 2008 fand in Speyer ein Kongress deutscher und polnischer Mediävisten statt, in dessen Rahmen Prozesse politischer Meinungs- und Willensbildung im Reich und in Polen näher erörtert und verglichen werden sollten. Es handelte sich zugleich um das zweite Treffen dieser Art: Erstmals war 2005 eine solche Zusammenkunft von Fachvertretern auf Initiative des Ständigen Ausschusses der polnischen Mediävisten (SKMP) in Breslau mit dem Ziel organisiert und durchgeführt worden, die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Mediävistik zu intensivieren. Es lag im Vorfeld der Speyrer Tagung dabei nahe, speziell Mitglieder des an der Universität Heidelberg angesiedelten SFB 619 („Ritualdynamik“) in die Organisation und Gestaltung des Programms einzubeziehen: Im Mittelalter waren die im Einzelnen recht unterschiedlichen Prozesse, die im Rahmen der Speyrer Tagung in den Fokus genommen werden sollten – beispielsweise Strategien, Meinungen zu bilden oder zu beeinflussen, Entschlüsse zu kommunizieren und durchzusetzen, sie durch entsprechende normative Handlungen und institutionelle Vorkehrungen zu sichern – in hohem Maße mit rituellem Handeln verknüpft. Der hier anzuzeigende Band macht die Referate der Tagung nun einem größeren Kreis von Interessierten zugänglich.

In seinen einleitenden Bemerkungen verweist Wojciech Fałkowski kurz auf die unterschiedlichen Funktionen, die Rituale in Entscheidungsfindungsprozessen, auf deren einzelnen Stufen sowie im Kontext der jeweiligen Inszenierung für eine unterschiedlich strukturierte Öffentlichkeit besitzen konnten. Ebenfalls dem Einleitungsteil zugeordnet wurde der ursprünglich als öffentlicher Abendvortrag in das Tagungsprogramm integrierte Beitrag von Klaus Ziemer über Polens historisches Selbstverständnis sowie über die geschichtspolitische Verortung und Bewertung bestimmter Etappen und Themen der deutsch-polnischen Geschichte.

In den folgenden Vorträgen wurde das Generalthema der Tagung an Fallbeispielen diskutiert, die aus den Feldern Königsherrschaft, fürstliche Herrschaft, aus dem Gebiet der Universitätsgeschichte, der Stadtgeschichte sowie dem Bereich der Kirchen- und Ordensgeschichte herausgegriffen worden waren. Den Auftakt bildet ein Beitrag Gert Althoffs über die „Kommunikation des Königs mit den Fürsten“, in dem Grundsätzliches zu Formen der Willensbildung, zu Definitionsproblemen und den Spielregeln ritualisierten Verhaltens, symbolischen Handels und den jeweiligen Funktionen an ausgewählten Beispielen ausgeführt wird. Nachfolgend eröffnet Martin Kintzinger einen erweiterten Vergleichshorizont, indem er die Vorgänge um Krönungen im Reich und in Frankreich sowie deren textuelle und visuelle Repräsentationen miteinander kontrastiert.

Antoni Barciak, Zbigniew Dalewski, Tomasz Jurek und Gerald Schwedler nehmen sehr unterschiedliche Willensbildungs- und Kommunikationsprozesse im Bereich fürstlicher Herrschaft in den Blick: In den Beiträgen von Barciak und Schwedler geht es um die Funktion spezieller Zusammenkünfte unterschiedlicher sozialer Gruppen: Barciak betrachtet das wiece als Treffen in Gegenwart des Herzogs mit zumindest Teilen der Untertanen im Polen des 13. Jahrhunderts. Schwedler arbeitet heraus, wie das Reich auf verschiedenen Fürstenzusammenkünften und Kurvereinen in der Zeit vor dem Erlass der Goldenen Bulle auch ohne die Präsenz des Königs inszeniert wurde. Jurek widmet sich in seinem Beitrag den unterschiedlichen Formen und konkreten Techniken, die beim Nachrichtentransfer zwischen dem Herrscher, seinen Amtsträgern und der übrigen Gesellschaft zum Einsatz kamen. Dalewski analysiert die umfänglichen Beschreibungen des Chronisten Wincenty Kadłubek über drei Herzogserhebungen unter dem Vorzeichen zweier miteinander konkurrierender Nachfolgeregelungen, des Seniorats und des sich historisch schließlich durchsetzenden Erbrechts der Söhne des verstorbenen Fürsten. Diese Entwicklungen lassen sich, so Dalewski, auch anhand der Veränderungen der rituellen Handlungen im Rahmen der Einsetzungen nachzeichnen.

Parallelen zur Welt der Fürstenhöfe und der ihnen eigenen Spielregeln in den Auseinandersetzungen um symbolisches Kapital arbeitet Robert Gramsch bei Mechanismen innerhalb der spätmittelalterlichen Universität als besonderem sozialen Raum heraus. Krzysztof Ożóg widmet sich in seinem Beitrag den Rollen, die die Krakauer Universität und ihre Mitglieder gutachtend und beratend im politischen Geschäft des Königreiches und seiner Repräsentation spielten.

Henryk Samsonowicz erläutert grundlegende Mechanismen der städtischen Selbstverwaltung sowie die verschiedenen Faktoren, die sich auf die Gestaltung von Verfahren sowie die Verwaltungsstrukturen unterschiedlicher Stadttypen prägend auswirken konnten. Peter Schuster demonstriert anhand von Beispielen aus dem Reich, wie ritualisierte Willensbildungsprozesse in unterschiedlichen städtischen Gremien der Herstellung von Ordnung, von Unterordnung und Gehorsam dienen konnten.

Der Bedeutung von Willensbildungsprozessen und ihrer Funktion innerhalb geistlicher Gemeinschaften wurde im letzten Teil der Tagung nachgespürt: Andrzej Radzimiński untersucht die Stiftungstätigkeit von Herrschern sowie deren Einfluss auf die Besetzung von Bistümern, auf die Zusammensetzung von Domkapiteln und auf die Vergabe von Benefizien sowie den spezifischen Charakter und die Ziele, die Treffen zwischen Herrschern und Geistlichen haben konnten. Dabei arbeitet er die gerade auch im Vergleich mit den Verhältnissen im Reich recht starke Stellung des polnischen Königs in der spätmittelalterlichen Kirchenordnung heraus. Das Problem der Entscheidungsfindung und der rituellen Gestaltung der damit einhergehenden Abläufe in monastischen Gemeinschaften, die gemäß hergebrachtem Verständnis von ihrer Natur eigentlich als „willenlos“ aufgefasst wurden, betrachtet Jörg Sonntag in seinem Beitrag. Die Rolle von Partikularsynoden sowie deren Verhältnis zu zeitlich nahe liegenden Zusammenkünften des Adels als Orten von Willensbildungsprozessen in der polnisch-litauischen Adelsrepublik beleuchtet Thomas Wünsch. Dabei versucht er, Ansätze der „Kulturgeschichte des Politischen“ (Barbara Stolberg-Rilinger) nutzbar zu machen, und kann zeigen, dass diese Synoden zwar überwiegend kirchliche Fragen behandelten, aber auch eindeutig politische Funktionen erfüllten.

Der Band schließt mit einer systematisierenden Zusammenfassung aus der Feder Stefan Weinfurters, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den verschiedenen Stufen der Willensbildungsprozesse, ihrer Ritualisierung und der dabei zum Einsatz gebrachten Symbole sowie des jeweils gültigen Ordnungsrahmens herausstellt, in den die betrachteten Institutionen und Personengruppen mit ihren jeweiligen Funktionen gestellt waren. Sowohl im Reich als auch in Polen sei die Phase der rechtlichen Normierung im 13. Jahrhundert, die Weinfurter als „Epoche der Verdeutlichung“ bezeichnen möchte, vom nachfolgenden „Jahrhundert der Zeremonialisierung“ zu unterscheiden. Gleichzeitig plädiert Weinfurter für einen weiten Ritualbegriff, um die Wechselwirkungen zwischen politischer Willensbildung und den diese Prozesse begleitenden, repräsentierenden, ihrer Legitimation dienenden Ritualisierungen und den durch sie hindurch scheinenden Wert- und Rechtsvorstellungen greifbar werden zu lassen. Dieses spannungsreiche und sich unablässig wandelnde Wechselspiel tritt gerade in der Zusammenschau der Beiträge deutlich zutage.

Maike Sach, Kiel

Zitierweise: Maike Sach über: Ritualisierung politischer Willensbildung. Polen und Deutschland im hohen und späten Mittelalter. Hrsg. von Stefan Weinfurter, Bernd Schneidmüller und Wojciech Fałkowski. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. XII, 275 S., 6 Abb., 4 Ktn., Tab. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 24. ISBN: 978-3-447-06389-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sach_Weinfurter_Ritualisierungen_politischer_Willensbildung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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