Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Grzegorz Rossoliński-Liebe
Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur. Hrsg. von Anna Wolff-Powęska / Piotr Forecki. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2012. 421 S. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 2. ISBN: 978-3-631-60787-9.
Inhaltsverzeichnis:
http://www.peterlang.com/exportdatas/exportfiles/onix/toc/9783631607879_toc.pdf
Der Holocaust rückte in Polen vom Rand ins Zentrums der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, nachdem 2001 Jan Tomasz Gross’ Nachbarn erschienen sind und eine lebhafte Debatte um diese Publikation begonnen hatte. Das Buch Nachbarn machte der Mehrheit der polnischen Gesellschaft klar, dass auch Polen in den Mord an den Juden involviert waren und dass der Holocaust nicht ausschließlich ein deutsches Unterfangen gewesen war, wie man seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges annahm. Der rezensierte Band beinhaltet 22 in deutscher und englischer Sprache verfasste Beiträge, die interessanterweise ausschließlich nur von polnischen oder aus Polen stammenden Historikern, Soziologen, Anthropologen, Politikwissenschaftlern und Literaturwissenschaftlern geschrieben wurden. Die Beiträge sind in vier Sektionen untergliedert, denen eine Einleitung von Anna Wolff-Powęska vorausgeht.
In der Einleitung konzentriert sich die Herausgeberin stark auf Deutschland und den deutschen Umgang mit dem Holocaust. Sie weist auf die „Schicksalsgemeinschaft der Deutschen, Polen und Juden“ und auf die „Verpflichtung zur Erinnerung und zur Verantwortung“ hin, die aus der gemeinsamen Geschichte resultiert. Wolff-Powęska erklärt, wie verschieden sich die Erinnerungen an den Holocaust in Deutschland und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten. Des weiteren zeichnet sie nach, welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit dem Holocaust für die Bildung der deutschen, jüdischen und polnischen Nachkriegsidentitäten hatte.
Die erste Sektion Erinnerung und Verantwortung beginnt mit einem Beitrag von Zygmunt Baumann, der die Einzigartigkeit des Holocaust und die dehumanisierende Wirkung der nationalsozialistischen Ideologie diskutiert. In diesem Zusammenhang wirft er die Frage auf: „Does the memory of the Holocaust make the world a better and safer, or a worse and more dangerous place?“ Als eine Gefahr für den Umgang mit dem Holocaust sieht Baumann die Dichotomie von Sakralisierung und Banalisierung. Während die Sakralisierung den Holocaust in ein quasi religiöses Phänomen verwandelt, das mit nichts verglichen werden darf, präsentiert die Banalisierung ihn als ein Ereignis, das sich durch nichts von allen anderen historischen Ereignissen unterscheidet (S. 29–36). Jerzy Jedlicki erörtert die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung für die Verbrechen der einer bestimmten Gesellschaft oder Nation zugehörenden Täter. Die deutsche und polnische Involvierung in den Holocaust diskutierend, konstatiert er: „die polnische Abrechnung mit der Geschichte ist unvergleichlich leichter aber in mancher Hinsicht dennoch schwerer“ (S. 45). Da die Polen weniger in den Holocaust involviert waren als die Deutschen, müsste es ihnen leichter fallen, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Mythos des Widerstands jedoch macht die Auseinandersetzung eindeutig schwerer. Joanna Tokarska-Bakir bespricht die psychologische Seite der Debatte um Jedwabne und die Rolle der Historiker in dieser Debatte. Sie erklärt, wie national-konservativ gesinnte Historiker auf der einen Seite Wissenschaftler bestrafen, deren Forschungen die nationalen Werte einer Gemeinschaft verletzen (S. 56), und wie sie auf der anderen Seite die Stimme der Opfer aus national-konservativen oder patriotischen Gründen ignorieren (S. 60–63). Michał Głowiński analysiert den antisemitischen Diskurs als eine Ausprägung des nationalistischen Diskurses. Er weist nach, wie der Antisemitismus die Entwicklung des polnischen Nationalismus begleitete, sich zu einem wichtigen Bestandteil dieser Ideologie entwickelte und auch heute noch viele Aspekte der komplizierten Realität in einfachen antisemitischen Stereotypen wahrnehmen lässt (S. 70–83).
Die zweite Sektion thematisiert Erinnerung und Politik in der Volksrepublik Polen. Feliks Tych weist auf den Fall des Literaturwissenschaftlers Jan Błoński hin, der für seinen 1987 veröffentlichten Essay Die armen Polen schauen auf das Ghetto aus den gesellschaftlichen und intellektuellen Kreisen ausgeschlossen wurde (S. 87). Er beschreibt auch das Problem des Antisemitismus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen, der sich unter anderem in mehreren Pogromen äußerte, die laut Tych einige Hundert Juden das Leben kosteten. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die 250.000 Holocaust-Überlebenden, die nach dem Krieg in Polen lebten und von denen 98 % zwischen 1945 und 1989 das Land wegen antisemitischer Ausschreitungen und antizionistischer Kampagnen verließen (S. 89, 104). Der Holocaust wurde im kommunistischen Polen unter anderem deshalb marginalisiert, weil er, anders als der Nationalismus und Antisemitismus, nicht dafür geeignet war, die Regierung zu legitimieren (S. 96, 99). Im Gegensatz dazu standen aber die Aktivitäten einer Reihe von jüdischen Intellektuellen, unter ihnen viele Holocaust-Überlebende, die nach dem Krieg das Jüdische Historische Institut in Warschau gründeten und wichtige Holocaust-Forschung betrieben (S. 100–105). Alina Cała analysiert in dieser Sektion die Genese des polnischen und jüdischen Märtyrermythos. Zofia Wóycicka erklärt, wie die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau auch infolge der Internationalisierung der Museumsgeschichte von der kommunistischen Partei mehrmals politisch instrumentalisiert wurde (S. 140–141). Marcin Zaremba erläutert das organisierte Vergessen in der Ära Edward Gierek am Beispiel des Aufstandes des Warschauer Ghettos, der wie eine heroische Tat der polnischen Geschichte dargestellt wurde (S. 167–168). Jacek Leociak analysiert die Instrumentalisierung des Holocaust in den antizionistischen Diskursen im März 1968, als mehrere Tausend Juden aus Polen verwiesen wurden.
Die dritte Sektion ist den öffentlichen Debatten in Polen nach 1989 gewidmet. Bartłomiej Krupa verdeutlicht, warum es in den achtziger und neunziger Jahren nicht gelang, den Holocaust in Polen ins kollektive Bewusstsein zu bringen (S. 200). Des Weiteren analysiert er den Verlauf der ersten Holocaust-Debatte nach 1989 um Michał Cichys 1994 in der Gazeta wyborcza veröffentlichten Artikel Die dunklen Seiten des Antisemitismus. Cichys Artikel über Antisemitismus in der Polnischen Heimatarmee rief heftige Reaktionen seitens der Veteranen und einiger Historiker hervor, hatte aber wenig Einfluss auf das bis heute stark glorifizierende Image der Polnischen Heimatarmee. Piotr Forecki zeigt, wieso der Holocaust geleugnet wird, und beschreibt den Fall des polnischen Holocaust-Leugners Dariusz Ratajczak (S. 224). Elżbieta Janicka polemisiert gegen Jan Tomasz Gross (S. 252–256) und analysiert sein Buch Die Angst, das die antijüdischen Ausschreitungen nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt. Janicka behauptet, dass mehrere von Gross’ Erklärungsansätzen unzulänglich seien, und schlägt vor, die Geschichte des polnischen Antisemitismus zugespitzter zu schreiben.
In der letzten Sektion des Buches werden verschiedene Aspekte der Repräsentation der Erinnerung in der Literatur, in Filmen und Museen in Beiträgen von Józef Wróbel, Przemysław Czapliński, Dorota Krawczyńska, Bogumiła Kaniewska, Sławomir Buryła, Aleksandra Ubertowska, Tomasz Łysak, Małgorzata Pakier und Anna Ziębińska-Witek behandelt. Diese Aufsätze führen in die Literatur der polnischen Juden ein, die seit dem 19. Jahrhundert auf Hebräisch, Jiddisch und Polnisch publiziert wurde. Sie setzen sich mit der ästhetischen Seite der Holocaust-Darstellung auseinander und analysieren die Prosa von Tadeusz Borowski, die Dichtung von Adam Zagajewski und die Verwendung von Nazipropaganda in Nachkriegsfilmen über das Warschauer Ghetto.
Der Sammelband bündelt durchaus interessante Beiträge und gibt einen guten Überblick über den Umgang mit dem Holocaust in Polen seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute. Bei der Lektüre der Beiträge wird klar, dass in Polen seit der Wende viel über den Holocaust geforscht wird und dass er seit einer Dekade viel diskutiert und debattiert wird. Auch solche Themen wie der Antizionismus, der Antisemitismus oder die Verflechtung der polnischen und jüdischen Literatur werden von Vertretern verschiedener geisteswissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Disziplinen untersucht. Diese Tendenz verdeutlicht, dass die polnische Wissenschaft und Gesellschaft sich mit dem Holocaust und der polnischen Involvierung in diesen auseinandersetzt, und legt die Erwartung nahe, dass sich dieser Trend auf das Selbstverständnis der Polen auswirkt und ihre Einstellung zu den nicht mehr lebenden Juden ändert.
Zitierweise: Grzegorz Rossoliński-Liebe über: Der Holocaust in der polnischen Erinnerungskultur. Hrsg. von Anna Wolff-Powęska / Piotr Forecki. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2012. 421 S. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 2. ISBN: 978-3-631-60787-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rossolinski-Liebe_Wolff-Poweska_Der_Holocaust_in_der_polnischen_Erinnerungskultur.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Grzegorz Rossoliński-Liebe. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.