Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Andreas Renner
Anatolij P. Popov: Iz istorii rossijskoj fotografii. Moskva: Izdat. Moskovskogo Gosudarstvennogo Universiteta, 2010. 237 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-5-211-05773-9.
Seit einigen Jahren finden Fotografien als Quellen und Fotografie als Thema die verstärkte Aufmerksamkeit von Historikern. Auch für das Zarenreich und die Sowjetunion erschließen fotografiegeschichtliche Detailstudien und erste Überblicke ein neues Forschungsfeld. In dieses noch unübersichtliche Mosaik fügen sich die Arbeiten des Moskauer Fotohistorikers Anatolij Popov zur Technik- und Institutionengeschichte sowie zu einzelnen Fotografen der ausgehenden Zarenzeit und der frühen Sowjetunion ein. Popov, der als wissenschaftlicher Konsultant am Moskauer Polytechnischen Museum tätig ist, hat in einer Vorlesungsreihe die Etablierung des neuen Mediums Fotografie in Russland anhand mehrerer Fallstudien skizziert. Die Manuskripte dieser Vorträge liegen jetzt, zusammen mit zahlreichen Reproduktionen zeitgenössischer Fotografien vor allem aus den Beständen der Moskauer Staatsbibliothek der Künste, als Buch vor. Die Schwerpunkte und die Bildauswahl des Sammelbandes – so viel vorweg – folgen einem nicht nachvollziehbaren, weil nicht weiter begründeten Interesse des Autors. Einen Überblick, eine Einführung in die russisch-sowjetische Fotografiegeschichte bieten sie nicht – wohl aber zahlreiche Anregungen und Material, dieses Thema tiefer zu ergründen.
Das Buch gliedert sich in vierzehn sehr unterschiedlich lange Kapitel, die weder inhaltlich noch chronologisch aufeinander aufbauen und somit auch separat zu lesen sind. Vier Schwerpunktthemen lassen sich erkennen. In zwei einleitenden Kapiteln gibt der Autor einen diachronen Überblick; er skizziert die schnelle Rezeption und Adaption der fotografischen Techniken von Louis Daguerre und William H. F. Talbot durch russische Fotografen sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen, die für das neue Medium teilweise erst geschaffen werden mussten. Während die Technikgeschichte der frühen Fotografie im Zarenreich bereits wiederholt zusammengefasst wurde, betritt Popov mit seiner rechtshistorischen Skizze Neuland. Die Eröffnung eines Fotostudios und die Veröffentlichung von Fotografien konnte mit den bestehenden Gewerbe- und Zensurgesetzen sowie später dem Urheberrecht erfasst werden, doch die fotografische Praxis, zumal das öffentliche Fotografieren, stellte ein neues Phänomen dar. Entsprechende Genehmigungen stellten lokale Behörden aus – und sie wurden den Mitgliedern fotografischer Gesellschaften pauschal gewährt. Diese Vereine, die vor allem in den 1890er Jahren gegründet wurden, bilden den zweiten Fokus – ihnen widmet Popov das mit 72 Seiten längste Kapitel des Buches. Allerdings ist dieser Abschnitt allein deswegen so umfangreich geraten, weil er die einzelnen Vereine nacheinander vorstellt. Bis zum Weltkrieg entstand ein landesweites Netz fotografischer Gesellschaften, die neben dem fachlichen und geselligen Austausch auch der Positionierung in der Öffentlichkeit dienten. Sei es durch fotografische Wettbewerbe und Ausstellungen, sei es durch die Formulierung von Interessen des entstehenden Fotografenberufs. Die mit Abstand größte und von vornherein mit einem reichsweiten Vertretungsanspruch gegründete Gesellschaft war die Moskauer „Russische Fotografische Gesellschaft“ von 1894, die Popov ausführlicher behandelt. Doch gelangt er selbst hier über eine Vereinschronologie nicht hinaus und verzichtet einerseits auf eine Einordnung der fotografischen Öffentlichkeit in die (umstrittene) Entwicklung einer russischen Zivilgesellschaft, andererseits auf eine Erörterung der technisch bedingten Veränderungen (etwa durch preiswertere Handkameras mit Filmen statt Platten) in der fotografischen Praxis gerade während des Gründungsbooms der fotografischen Gesellschaften. Stellenweise gerät die Darstellung zu einem Katalog, der manche Gesellschaften in der Provinz in zwei, drei Zeilen knapp erwähnt. Hilfreich wären hier Hinweise auf Lexika, Quellen und die benutzte Literatur gewesen. Solche Informationen fehlen jedoch in dem Buch nahezu vollständig; lediglich zu zwei der ausführlicher vorgestellten Fotografen nennt Popov einige Aufsätze.
Vollends wie aus einem Nachschlagewerk präsentieren sich die nächsten vier Kapitel; sie befassen sich mit den Formaten zeitgenössischer Glasnegative, mit Fotopapier, Fotorevers und Postkarten. Akribisch listet Popov Varianten und Beispiele auf. Ohne Frage können solche Hintergrundinformationen ein Forschungsprojekt entscheidend voranbringen; die meisten Leser dürfte jedoch mehr interessieren, welche Wirkung das Massenmedium der Bildpostkarte um die Jahrhundertwende entfaltete oder was Fotorevers über die Selbstdarstellung der Fotografen verraten (Fotorevers aus Karton dienten zur Kaschierung der dünnen Albuminabzüge des 19. Jahrhunderts; ihre Rückseite wurde von den Fotografen werbewirksam gestaltet). Die letzten sieben Kapitel des Buches befassen sich mit den Biographien russischer Fotografen. Es ist zweifellos ein Verdienst des Verfassers, detaillierte Informationen zusammengetragen zu haben: über heute kaum noch bekannte Fotografen wie den Petersburger Porträt-Fotografen Miron Šerling oder die aus dem Bauernstand stammende Familie Pavlov, die in Moskau ein Fotoatelier und eine Druckerei betrieb. Dagegen beschränkt sich das lediglich anderthalbseitige Kapitel über die wahrscheinlich bekanntesten Stadtfotografen von Petersburg, Karl Bulla und seine Söhne, auf die begründete Überlegung, dass deren Nachlass von 132.686 Negativen kaum allein aus den Kameras der Bulla-Familie stammen konnte. Es sind solche, gelegentlich sogar mit Archivfunden belegte Details, die den Wert der Studien von Popov ausmachen – das Manko besteht darin, dass sie durch keinen roten Faden oder kontextualisierende Überlegungen zusammengehalten werden. Das gilt auch für die zahlreichen, nur grob den einzelnen Kapiteln zugeordneten Fotografien. Sie illustrieren das Geschriebene statt es zu belegen. Zum Beispiel führt Popov gleich mehrere Fotografien an, auf denen die Fotografenfamilie Pavlov zu sehen ist – aber keine, die sie selbst angefertigt hat.
Somit bleibt nach der Lektüre dieser Aufsatzsammlung ein ambivalenter Eindruck. Sämtliche Beiträge zeugen vom Kenntnisreichtum des Autors wie von seinen Schwierigkeiten, weiterführende Fragen an sein Material zu stellen.
Zitierweise: Andreas Renner über: Anatolij P. Popov: Iz istorii rossijskoj fotografii. Moskva: Izdat. Moskovskogo Gosudarstvennogo Universiteta, 2010. 237 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-5-211-05773-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Renner_Popov_Iz_istorii_rossijskoj_fotografii.html (Datum des Seitenbesuchs)
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