Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Andreas Renner
Amir A. Chisamutdinov: Russkaja Japonija [Russisches Japan]. Moskva: Veče, 2010. 399 S., Abb. = Russkie za granicej. ISBN: 978-5-9533-4918-5.
„Ach, man müsste eine vollständige Liste aller russischen Gräber in Japan erstellen“ (S. 381) – so lautet ein Leitmotiv dieses während eines Forschungsaufenthalts in Japan entstandenen Buchs. Der Autor ist den Spuren gefolgt, die Russen seit dem 18. Jahrhundert in Japan hinterlassen haben: den bekannten Namen unter politischen Verträgen und auf den Deckblättern von Missionsschriften ebenso wie vergessenen Einträgen in alten Handelsregistern oder eben auf verwitterten Grabsteinen. Für dieses Projekt hat der Historiker von der Fernöstlichen Technischen Universität in Vladivostok Material nicht nur aus Bibliotheken und Archiven zusammengetragen, sondern auch Denkmäler und Kirchen, Straßenzüge und Menschen aufgesucht. Entstanden ist ein persönliches Buch, keine wissenschaftliche Monographie. Chisamutdinov gibt einen mit Namen und Daten gesättigten Einblick in die russisch-japanischen Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert; der Schwerpunkt liegt auf den Jahrzehnten zwischen der „Öffnung“ Japans in den 1850er Jahren durch westliche, darunter auch russische Kriegsschiffe und den späten 1930er Jahren, als die sowjetisch-japanischen Beziehungen bis zur militärischen Eskalation gespannt waren. Der Aufbau des Buches folgt dieser politischen Chronologie; es ist jedoch in 28 thematische Abschnitte gegliedert, die unterschiedliche Wirkungskreise von Russen in Japan vorstellen. Das erste Konsulat in Hakodate, die russische Siedlung in Nagasaki, die erste orthodoxe Taufe in Japan, die Gründung russischer Restaurants oder Hotels, die bischöfliche Mission in Tokio, die Emigrantenzirkel der 1920er Jahre in Kobe und anderen Städten. Diese Kapitel bilden ein recht grobflächiges Mosaik, in dem man russische Touristen, Kriegsgefangene, Spione oder Kommunisten allenfalls beiläufig erwähnt findet. Im Zentrum steht die orthodoxe Kirche, deren Mitgliederzahlen gleichsam die Entwicklung der russisch-japanischen Beziehungen indizieren. Man kann dies nicht anders als eine russozentrische Perspektive nennen, die in der Fremde zuerst nach dem Eigenen schaut.
Schon wegen des großen Zeitraums und der ständig wechselnden geographischen Bezüge kann sich diese Darstellung nicht mit einer historischen Topologie im Sinn von Karl Schlögel messen oder mit Spezialstudien zur russischen Diaspora wie der von Petr Podalko. Nicht nur bei der Auflistung von Grabsteinen bleibt Chisamutdinov im Chronistischen und Anekdotischen stecken – und dieser Vorwurf lässt sich auch nicht durch den populärwissenschaftlichen Anspruch der Darstellung entkräften. Denn gerade für Leser mit weniger Vorkenntnissen wäre ein klarer Bezugsrahmen hilfreich, um die berichteten Details einordnen und gewichten zu können. Doch schon der Titel bleibt charakteristisch vage. Behandelt wird gerade nicht „das russische Japan“ – vorgestellt werden vielmehr Lebenswegetappen von Russen im Land der aufgehenden Sonne: kurze Intermezzi von angeschwemmten Wasserleichen auf der nördlichen Insel Hokkaido oder von Marineoffizieren auf Landgang, aber auch das jahrzehntelange Wirken des orthodoxen Erzbischofs Nikolaj in Tokio oder der oft mühsame Werdegang von Einwandererkindern. Für diese sorgfältig und mit Empathie erzählten Biographieabschnitte stellt Japan eine mehr oder weniger exotische Bühne dar – in den Hintergrund rückt dagegen ein anderes russisches Japan: das Objekt von Großmachtdiplomatie und Wirtschaftsinteressen oder das kulturelle Konstrukt von Intellektuellen und Politikern. Selbst epochale Vorgänge wie die Modernisierungspolitik in der Meiji-Zeit, den russisch-japanischen Krieg oder den japanisch-sowjetischen Antagonismus in China handelt Chisamutdinov in nur wenigen Zeilen ab. Statt dessen dominiert die zeit- und standortgebundene Perspektive der russischen Besucher, die in langen Paraphrasen und Zitaten zu Wort kommen. Ihre Selbstzeugnisse öffnen zwar den Blick auf vergangene Vorstellungen und Erfahrungen – und es ist ohne Frage kein geringes Verdienst des Autors, hier auch weniger prominente Akteure entdeckt und zum Sprechen gebracht zu haben; doch er erwartet, von den Zeitzeugen vor allem authentische Eindrücke zu hören, die ihm dann selbst als Grundlage seiner Darstellung dienen und deren Urteile er sich immer wieder unreflektiert zu eigen macht. Hierzu passt ein Reisebericht des Autors im letzten Kapitel, der immerhin ein Viertel des gesamten Buches umfasst. Chisamutdinov hat mit seiner Geschichte der Russen in Japan auch – und vielleicht in erster Linie – eine Geschichte geschrieben, wie diese Russen sich in Bezug zu ihren japanischen Gastgebern beziehungsweise Mitbürgern setzten und von ihnen wahrgenommen werden wollten.
Zitierweise: Andreas Renner über: Amir A. Chisamutdinov Russkaja Japonija [Russisches Japan]. Moskva: Veče, 2010. = Russkie za granicej. ISBN: 978-5-9533-4918-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Renner_Chisamutdinov_Russkaja_Japonija.html (Datum des Seitenbesuchs)
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