Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Michael Portmann
Plamen Mitev / Ivan Parvev / Maria Baramova / Vania Racheva (eds.): Empires and Peninsulas. Southeastern Europe between Karlowitz and the Peace of Adrianople, 1699–1829. Berlin: Lit, 2010, 279 S., Tab., Kte., Abb. = Geschichte: Forschung und Wissenschaft, 36. ISBN: 978-3-643-10611-7.
Inhaltsverzeichnis:
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Im Jahr 2009 jährten sich zum 310. Male der Vertrag von Karlowitz (1699) und zum 180. Male der Friede von Adrianopel (1829). Diese beiden Jahrestage nahmen die Herausgeberinnen und Herausgeber des zu besprechenden Bandes zum Anlass, an der Universität in Sofia eine internationale Konferenz über die Zeitspanne zwischen diesen beiden Friedensverträgen und mit geographischer Konzentration auf (ein erweitertes) Südosteuropa zu organisieren. Es war dies eine Periode, in der auf gesamteuropäischer, zentralstaatlich-osmanischer und osmanisch-südosteuropäischer Ebene zahlreiche Weichen für die im „langen“ 19. Jahrhundert rasch voranschreitende „Verwandlung der Welt“ (Jürgen Osterhammel) gestellt wurden. Daher erstaunt umso mehr, dass sich die Historiographie zum osmanischen, habsburgischen (und venezianischen) Südosteuropa des 18. und 19. Jahrhunderts nach wie vor hauptsächlich nationalen bzw. nationalstaatlichen Akteuren verpflichtet fühlt.
Das vorliegende Buch versammelt auf 280 Seiten insgesamt 28 Beiträge, wobei dem Anspruch nach Pfade traditioneller nationaler Sicht- und Denkweisen zumindest um wesentliche Aspekte erweitert oder zugunsten origineller Inhalte gänzlich verlassen werden. In dieser Hinsicht gibt die von Charles Ingrao und Yasir Yilmaz verfasste Einleitung (S. 5–17) auch gleich die dem Bandtitel verpflichtete Richtung vor: In Südosteuropa und der Schwarzmeerregion, wo die Ansprüche dreier Herrschaftsbereiche physisch zusammenstießen und mit Großbritannien, Frankreich und dem Russischen Reich mindestens drei weitere Staaten bzw. Imperien wirtschaftliche und politische Interessen zu wahren suchten, gehören globale Perspektiven unbedingt zu einer zeitgemäßen Historiographie. Im anregenden Beitrag von Jovan Pešalj (S. 29–42) wird die Wechselwirkung zwischen Großmachtpolitik einerseits und lokalen/regionalen Konflikten andererseits anschaulich illustriert. Auch im sehr gelungenen, auf Archivquellen basierenden Text von Boro Bronza (S. 51–62) kommt zum Ausdruck, wie stark höfisch-dynastische Befindlichkeiten, persönliche Interessen der Herrscher und deren Einschätzung der geopolitischen Situation („balance of power“) über Krieg und Frieden entschieden. Will Smiley (S. 63–71) deckt die gesamte Zeitspanne des Konferenzbandes ab, weshalb seine Ausführungen bewusst deskriptiv bleiben, dennoch aber die wichtigsten Entwicklungen im Kriegsgefangenenaustausch zwischen dem Habsburgerreich und dem osmanischen Staat darzulegen vermögen. Durchaus interessant lesen sich die Ausführungen von Giacomo Brucciani (S. 85–94). Er wirft die mit Sicherheit noch nicht befriedigend beantwortete Frage auf, in welchem Ausmaß die orthodoxen Kirchen in Südosteuropa nicht nur zur Konservierung des religiösen Gegensatzes zwischen Christen und Muslimen beigetragen, sondern auch die sprachlich-ethnisch begründete Herausbildung eines nationalen Bewusstseins im Laufe des 19. Jahrhunderts befördert haben. Einen informativen Überblick zur Entwicklung der orthodoxen Kirchen im osmanischen Südosteuropa – der mit einiger Berechtigung dem Text von Brucciani hätte vorangestellt werden können – liefert Eleonora Naxidou (S. 149–161). Mit der gebotenen kritischen Distanz zu ihrem Untersuchungssubjekt analysiert die Mitherausgeberin Maria Baramova durch Johann Heinrich Zedlers Augen in vorbildlicher Weise, wie im 18. Jahrhundert Wissen über die Welt gesammelt und Bilder von der Welt gezeichnet wurden (S. 95–105). Auch die Beiträge von Sergey Murtuzaliev (S. 73–84), Plamen Mitev (S. 107–114), Nadia Manolova-Nikolova (S. 115–123), Miloš Đorđević (S. 125–130) und Snežana Vukodinović (S. 131–135) sind apperzeptiv und diskursiv ausgerichtet: Aus russischer, französischer, spanischer und serbischer Perspektive werden darin ausgewählte Aspekte des osmanisch-russisch-südosteuropäischen Spannungsverhältnisses beleuchtet. Der kursorische Artikel von Harald Heppner (S. 137–141) wirft zum Schluss die gleichermaßen umstrittenen wie spannenden Fragen auf, inwieweit im 18. Jahrhundert auch im Osmanischen Reich Transformationsprozesse stattfanden und in welchen Bereichen diese Modernisierung hinter jener in „Westeuropa“ zurückblieb. Antworten darauf werden im souveränen Text von Marlene Kurz (S. 163–170) geboten. Zu Recht plädiert sie dafür, flexiblere, empirisch besser abgesicherte und weniger teleologische Konzepte anzuwenden (S. 164), wenn es um die Beurteilung von „Modernität“ von nicht-westlichen Staaten und Gesellschaften geht. Im Einklang beispielsweise mit dem in New York lehrenden Osmanisten Rifa´at ’Ali Abou-El-Haj betont Kurz, dass Anstösse zum sozialen und kulturellen Wandel oft auch von innerhalb des Osmanischen Reiches ausgegangen seien („orthogenische Faktoren“). Schon fast erschreckend nationalistisch verseucht und offenbar immun gegen nicht einmal mehr so neue Interpretationslinien mutet der Beitrag von Suzana Rajić (S. 143–148) an. Den „Revolutionären“ im Belgrader pashalık im Jahr 1804 die Absicht anzudichten, sie hätten eine civil society schaffen wollen, ist an Absurdität kaum mehr zu überbieten. Wohl auch als notwenidges Korrektiv zum Text von Rajić gedacht, zeichnen die Ausführungen von Nedeljko Radosavljević (S. 171–178) ein adäquateres Bild von den Aufständischen im späteren Serbien und der Schaffung eines neuen serbischen Staates. Die Beiträge von Elpida Vogli (S. 191–201) über den griechischen Unabhängigkeitskrieg und von Manos Perakis über dessen Auswirkungen auf Kreta (S. 179–190) gehören zu den Höhepunkten des Bandes: Mit viel Reflexionsvermögen und semantischer Sensibilität analysieren Vogli und Perakis in wohltuend „entnationalisierter“ Weise, dafür unter Berücksichtigung der europäischen Mächtekonstellation, jene militärischen und politischen Erschütterungen, die auf der Peloponnes zur Gründung eines unabhängigen griechischen Staates führten, auf Kreta hingegen mittelfristig die Herrschaftsbeziehungen zwischen Muslimen und Christen nachhaltig (und zu Gunsten letzterer) veränderten. Im Zentrum der lesenswerten Texte von Dzheni Ivanova (S. 217–229) und Maria Shusharaova (S. 231–242) stehen die habsburgisch-osmanischen Kriege am Ende des 17. respektive zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Der Artikel von Ifigenija Draganić (S. 257–263) über die Verwendung des Griechischen und des Serbischen im 18. Jahrhundert fördert einzig dann Erstaunliches zu Tage, wenn man wie die Autorin anachronistischerweise in sehr engen nationalen Kategorien denkt. Der Beitrag von Dimitris Michalopoulos (S. 265–269) über die Visionen des Agathangelus einerseits und die Felduntersuchungen von Elka Drosneva / Maria Kirova (S. 271–277) zu Kriegen und Migrationen von 1828 bis 2009 andererseits bilden einen etwas unwürdigen Abschluss des Buches. Ersterer fügt sich nur schwerlich in das Generalthema des Bandes ein und beim letzteren stellt sich die Frage, welche empirische Aussagekraft Erinnerungen von „Zeitzeugen“ haben, die über zeitlich sehr weit zurückliegende Ereignisse erzählen. Dies mögen nette Geschichten sein, mit Geschichte jedoch hat das wenig zu tun.
Es hätte dem Band nicht geschadet, auf einige Beiträge zu verzichten, anderen dafür etwas mehr Platz einzuräumen sowie eine inhaltliche und zeitliche Bündelung vorzunehmen. Man sucht auch vergeblich nach einem Register und nach biographischen Kurzangaben über die Autorinnen und Autoren. Lobend hervorzuheben ist indes die sehr sorgfältige sprachliche und inhaltliche Redaktionsarbeit. Wie so oft in Konferenzsammelbänden stehen auch in diesem Falle ausgezeichnete Beiträge neben solchen, die nur mit sehr viel gutem Willen als wissenschaftlich qualifiziert werden können.
Zitierweise: Michael Portmann über: Plamen Mitev / Ivan Parvev / Maria Baramova / Vania Racheva (eds.): Empires and Peninsulas. Southeastern Europe between Karlowitz and the Peace of Adrianople, 1699–1829. Berlin: Lit, 2010, 279 S., Tab., Kte., Abb. = Geschichte: Forschung und Wissenschaft, 36. ISBN: 978-3-643-10611-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Portmann_Mitev_Empires_and_Peninsulas.html (Datum des Seitenbesuchs)
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