Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Edvin Pezo
Grenzüberschreitungen. Traditionen und Identitäten in Südosteuropa. Festschrift für Gabriella Schubert. Hrsg. von Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid und Gerhard Ressel. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. IX, 698 S., 8. Abb., 4 Tab., 8 Ktn. = Balkanologische Veröffentlichungen, 45. ISBN: 978-3-447-05792-9.
Die Themenfelder „Traditionen“ und „Identitäten“, auf die im Untertitel der Festschrift Bezug genommen wird, stellen zweifellos wichtige Untersuchungsgebiete der Südosteuropa-Forschung dar. Nicht allein die rasante politische und wirtschaftliche Transformation, die die Staaten Südosteuropas in den letzten Jahrzehnten erfasst hat und zu einer tiefgreifenden Verunsicherung der Menschen geführt hat, macht die Auseinandersetzung mit ihnen beinahe unabdingbar. Ebenso wird man zwangsläufig mit ihnen konfrontiert, wenn der zeitliche Horizont ausgedehnt und der Fokus beispielsweise auf Aspekte wie Sprache und Identität, Kultur, Moderne oder Migrationsbewegungen gelegt wird. Dabei müssen die in Südosteuropa anzutreffenden Grenzen beinahe unwillkürlich überschritten werden. Zu dicht sind die gegenseitigen Verflechtungen in dieser Region, die sich durch ihre ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt auszeichnet.
Grenzen hat Gabriella Schubert, die zwischen 1995 und 2008 die Professur für Südslawistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena innehatte und dort den Studiengang „Südosteuropastudien“ aufbaute, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort unterstreichen (S. 1f), zweifellos überschritten. Denn sie arbeitete interdisziplinär und beschränkte sich nicht allein auf den südslawischen Raum. Dies zeigt auch die vorliegende Festschrift, deren Beiträge das breite Spektrum widerspiegeln, mit dem sich die Jubilarin beschäftigt (hat), von der Sprach- und Literaturwissenschaft über die Volkskunde bis hin zur Kultur- und Geschichtswissenschaft.
Die Herausgeber haben hierzu eine ungewöhnlich hohe Zahl an Autoren – über 50 – zusammengetragen, was einerseits die Breite des Wirkungsfeldes und die gute wissenschaftliche Vernetzung von Frau Schubert eindrucksvoll vor Augen führt, andererseits dem Rezensenten eine nur recht oberflächliche Besprechung einiger weniger Beiträge gestattet. Die Beiträge wurden in der alphabetischen Abfolge der Autoren aufgenommen. Eine thematische Unterteilung erfolgte nicht, doch lässt sich ein regionaler Schwerpunkt im südslawischen (insbesondere serbokroatischen) Sprachraum ausmachen. Hier ist auch der Artikel von Vesna Cidilko zu verorten. Sie analysierte das Tagebuch Aleksandar Tišmas auf sein Deutschland- und Deutschen-Bild hin, wobei sie ein sehr widersprüchliches Bild des Schriftstellers gegenüber den Deutschen herausarbeitete. Einen für Griechenland wichtigen Zeitabschnitt, die Jahre nach der Kleinasiatischen Katastrophe bis 1935, beleuchtete Konstantinos A. Dimadis. Er ging der Frage nach, welche Einflüsse der Erste Weltkrieg, die Russische Revolution und die Beziehungen zwischen Nationalismus und Sozialismus auf die griechische Prosa hatten.
Zentrum und Peripherie standen bei Matthias Kappler im Vordergrund. In seiner Abhandlung zu den europäischen und osmanischen Einflüssen auf ionische und festlandsgriechische Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts konnte er die Annahme relativieren, dass in literarischer Hinsicht zwischen den vom Okzident geprägten ionischen Inseln und dem gegenüberliegenden Festland, das dem Osmanischen Reich zugehörig war, eine scharfe Trennlinie bestanden habe. Vielmehr konnte er nachvollziehbar machen, dass literarische Modelle und Motive sowie Identifizierungen/Identitäten mobile Strukturen sind und zwischen literarischen und kulturellen Systemen, zumal in Südosteuropa, migrieren (S. 258).
Gegenwartsnah arbeitete Christoph Giesel mittels einer Zeitungsanalyse zum albanischen Wahlkampf in Makedonien im Jahr 2006, als es im Vorfeld der Parlamentswahlen zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Anhängern der zwei größten albanischen Parteien kam. Hierbei legte er auch die innere Spaltung der albanischen Gesellschaft offen, die sich, neben den interethnischen politischen Problemen in Makedonien, dem „wechselseitigen Druck von Traditionalismus und Modernismus“ (S. 146) ausgesetzt sieht. Der hier und in anderen Aufsätzen immanenten Frage nach dem Verhältnis von „Tradition“ und „Moderne“ ging Anton Sterbling in seinem Beitrag zur Dynamik der Traditionalität in südosteuropäischen Gesellschaften nach. Diesen schloss er mit einem Unterkapitel zur Frage des Vertrauens in Gesellschaften des „öffentlichen Misstrauens“ ab, einer wichtigen Frage, da sie heute in der Tat ein „soziales Schlüsselproblem“ (S. 614) der Gesellschaften Südosteuropa darstellt und damit auch die soziale Relevanz der Traditionalität in all ihren Spielarten stützt.
In diesem Kontext ist auch der Aufsatz von Ksenija Petrović und Aleksandra Salamurović zu Öffentlichkeit und Darstellung der Frau in Südosteuropa am Beispiel der Medien in Serbien zu sehen. Dieser verdeutlicht nämlich, dass bestimmte tradierte Kulturmuster bis in die Gegenwart auf die Meinungen und das Gefühlsmuster einer Gesellschaft einwirken können. So ist trotz veränderter gesellschaftspolitischer Bedingungen in den in Serbien geführten Mediendiskursen weiterhin „eine Präsenz des alten patriarchalischen Modells“ feststellbar (S. 460).
Der Gestaltung und Tradierung von Wahrnehmungsmustern widmeten sich Marija Ilić, Henry Ludwig und Vesna Matović im Rahmen ihrer Ausführungen. Hierbei beleuchtete Marija Ilić mit Mitteln der Oral History, inwiefern autobiografische Narrative zur Gestaltung „kollektiver Narrative“ beitrugen. Vesna Matović wiederum untersuchte das historische Narrativ zu Hadži Lojo, einer aus Sarajevo stammenden historischen Gestalt des 19. Jahrhunderts, die den in Bosnien und Herzegowina beheimateten ethnischen Gruppen als Motivquelle literarischer Erzählungen diente. Henry Ludwig ging dagegen in seinem Artikel zum Wandel von Oralität und Erzähltradition in Albanien der Frage nach, wie orale Kommunikation aus kognitiver Sicht funktioniert und welche individuellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dabei eine Rolle spielen.
Beiträge über das Erzählen im heutigen Bulgarien stammen von Klaus Roth und Stanoy Stanoev. Aus volkskundlicher Sicht näherten sie sich einem Thema an, das – so Klaus Roth – unmittelbarer „Ausdruck sozialer Stimmungen und damit ein empfindlicher Indikator politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen im Lande“ ist (S. 559). Dass es dabei sehr heiter zugehen kann, verdeutlichte Stanoev in seiner Analyse von Mann und Frau in bulgarischen Ehewitzen, die hier auch Ausdruck für sich ändernde Familienstrukturen sind.
Andere Artikel weisen aus politik- oder geschichtswissenschaftlicher Sicht und gerade mit Blick auf identitätsbezogene Aspekte starke aktuelle Bezüge auf. So erörterte Joachim von Puttkamer in seinem Beitrag zu sprachlicher Assimilation und nationaler Mobilisierung in Ungarn um 1900, wie der Bezug auf die Magyarisierung sowohl auf Seiten der Nationalitäten wie auf ungarischer Seite in unterschiedlichen Kontexten als semantische Strategie eingesetzt wurde. Dabei zeichnete er nach, dass den nach 1867 erfolgten Debatten um Magyarisierung – ein stark politisierter Begriff mit prägenden Wirkungen in die Gegenwart hinein – eine „wesentliche Funktion in den Deutungen des dynamischen politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs nach 1867 zukam“ (S. 491). Wie die Kirche von Griechenland mit den Herausforderungen der Zukunft umgeht, thematisierte Evangelos Karagiannis, und Holm Sundhaussen diskutierte Serbiens „Befreiung von Kosovo“ als mögliches Ende einer „unendlichen“ Geschichte. Während es bei Karagiannis im Kern um die Frage nach der Säkularisierung in Griechenland und damit um die „Privatisierung der Kirche“ (S. 281) im Sinne der Entstaatlichung geht, erörterte Sundhaussen Argumentationsmuster zum territorialen Anspruch auf Kosovo. Diese sind seit dem Berliner Kongress 1878 immer wieder zu hören und beziehen sich insbesondere auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, „historische Rechte“, das Völkerrecht und den Punkt „Gerechtigkeit“.
Im Rahmen einer abschließenden Beurteilung des Bandes ist zu hinterfragen, inwiefern die Agglomeration derart vieler Festschriftbeiträge eine Gesamtanlage noch erkennen lassen kann, besonders wenn keine schlüssige thematische Bündelung erfolgt. Zu dieser strukturellen Schwäche kommt hinzu, dass Kleinstbeiträge mit nur einigen wenigen Seiten aufgenommen wurden, die eine gewisse wissenschaftliche Tiefe vermissen lassen, insbesondere dann, wenn es sich lediglich um Projektpräsentationen handelt. Dennoch finden sich zahlreiche lesenswerte und anregende Artikel, die die große Bandbreite der ins Visier genommenen und für die Südosteuropa-Forschung so wichtigen Themen „Traditionen“ und „Identitäten“ verdeutlichen.
Zitierweise: Edvin Pezo über: Grenzüberschreitungen. Traditionen und Identitäten in Südosteuropa. Festschrift für Gabriella Schubert. Hrsg. von Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid und Gerhard Ressel. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. IX. = Balkanologische Veröffentlichungen, 45. ISBN: 978-3-447-05792-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Pezo_Dahmen_Grenzueberschreitungen.html (Datum des Seitenbesuchs)
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