Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Hans-Christian Petersen
Angelika Strobel: Mar’ja Ivanovna Pokrovskaja. Ärztin, Hygienikerin, Feministin (1852–1922). Saarbrücken: VDM, 2010. 204 S. ISBN: 978-3-639-11830-8.
Es ist das gängige Schicksal akademischer Abschlussarbeiten, unpubliziert an der jeweiligen Hochschule zu verbleiben und damit keine Möglichkeit zu einer weitergehenden Rezeption zu erhalten. Die hier zu besprechende Studie gehört zu den Ausnahmen dieses Genres – sie wurde 2007 bei Nada Boškovska am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich als Lizentiatsarbeit eingereicht und erschien 2010 in gedruckter Form. Und dies aus gutem Grund, stellt sie doch einen aufschlussreichen Beitrag zu einer bisher wenig beleuchteten Schnittstelle verschiedener Forschungsstränge zum ausgehenden Zarenreich dar.
Die Protagonistin der Studie von Angelika Strobel war zu ihren Lebzeiten eine in der russischen Hauptstadt St. Petersburg bekannte Ärztin, Hygienikerin und Feministin, die sich durch eine ganze Reihe von Aktivitäten einen Namen gemacht hatte. Heute ist Mar’ja Ivanovna Pokrovskaja hingegen weitgehend in Vergessenheit geraten, sieht man einmal von den Erwähnungen ihrer Person in den einschlägigen Studien zur Geschichte von Armut und Hygiene sowie zur Frauenbewegung im Russländischen Reich ab. Dies unterscheidet Mar’ja Pokrovskaja von ihren deutlich bekannteren Zeitgenossinnen wie etwa Aleksandra Kollontaj – was nicht zuletzt darin begründet liegen dürfte, dass sich Pokrovskaja eindeutigen Kategorisierungen entzieht und sich wiederholt neben und zwischen den großen Strömungen ihrer Zeit positionierte.
Die Gliederung der Arbeit weist eine Zweiteilung auf. Das erste Kapitel, in welchem der Weg Mar’ja Pokrovskajas von ihrer Geburt in der Kreisstadt Nižnij Lomov im zentralrussischen Gouvernement Penza im Jahr 1852 bis zum Abschluss ihres Medizinstudiums in St. Petersburg 1881 nachgezeichnet wird, folgt einer chronologischen Ordnung. Die anschließenden Kapitel sind hingegen thematisch unterschieden. Präsentiert werden die wichtigsten Tätigkeitsfelder Pokrovskajas: ihr Wirken als Armenärztin, als Hygienikerin, als Abolitionistin, die gegen die Prostitution kämpfte, sowie als Feministin. Dieser zweistufige Aufbau ergibt sich aus den theoretischen und methodischen Prämissen, unter denen sich Angelika Strobel ihrer Protagonistin annähert. Sie verortet ihre Arbeit in den Bereichen der neueren Biographieforschung, der Mikrohistorie sowie im Konzept der Lebenswelten. Folgerichtig geht es ihr darum, einem Leben nicht nachträglich einen ‚roten Faden‘ einzuweben und damit Kohärenz und Zwangsläufigkeit zu suggerieren, wo tatsächlich vielmehr Inkohärenz, Brüche und Vielschichtigkeiten die Person Pokrovskajas ausmachten. Um dies unter dem Dach einer schlüssigen Darstellung unterzubringen, hat sie sich gegen eine rein chronologische Ordnung und für die Parallelisierung verschiedener Tätigkeitsfelder entschieden.
Eine Problematik des Themas stellt die Quellenlage dar. Von Mar’ja Pokrovskaja sind keine eindeutig als solche charakterisierten autobiographischen Aufzeichnungen überliefert, was vor allem für die ohnehin stets schwierig zu erschließende Zeit der Kindheit und Jugend viele Lücken offen lässt, die nicht zu schließen sind. Im Text schlägt sich dies dadurch nieder, dass die Verfasserin zum einen sehr ausführlich den jeweiligen Kontext beschreibt, in dem Pokrovskaja heranwuchs, und zum anderen, indem sie Erzählungen Pokrovskajas heranzieht, die wahrscheinlich autobiographische Züge tragen, sie mit anderen zeitgenössischen Quellen abgleicht und dann Hypothesen formuliert, „wie es hätte gewesen sein können“ (S. 12). Dies ist zwar zweifellos unbefriedigend, erscheint mir aber der beste der gangbaren Wege zu sein und allemal überzeugender als ein Postulieren weitreichender Schlussfolgerungen ohne Reflektion der dürftigen Quellenlage.
In den folgenden Kapiteln wird geschildert, wie Mar’ja Pokrovskaja nach der Beendigung ihres Studiums ab 1882 als Zemstvo-Ärztin aufs Land zurückkehrte, ehe sie dann 1888 eine Anstellung am Hygienelaboratorium der Kriegsakademie in Petersburg erhielt. In den folgenden Jahren legte sie eine Reihe von Studien zur Wohnungsnot sowie zur sozialen Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen vor, die zu den ersten auf diesem Gebiet gehörten. Je mehr sie über die Lebensumstände der städtischen Unterschichten erfuhr, umso mehr wandte sich Pokrovskaja von der reinen Diagnose ab und der Entwicklung von Lösungen für die Missstände zu. Schrieb sie anfangs vor allem für ein Fachpublikum, so versuchte sie nun zunehmend, breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen. Mit scharfen Formulierungen prangerte sie die Ausbeutung der in Ecken, Kellern und auf Dachböden schlafenden Arbeiter und Arbeiterinnen durch die Hausbesitzer an und versuchte zugleich, im Stile einer „Gesundheitsmissionarin“ (S. 77) ein Bewusstsein für die Bedeutung bestimmter sanitärer Standards zu wecken. Ein Prozess der Politisierung und Radikalisierung setzte ein, bei dem sie auch vor unpopulären Forderungen wie einer strikten Sexualpolitik oder einem kompromisslosen Kampf gegen die staatlich regulierte Prostitution nicht zurückschreckte.
Die Auseinandersetzung mit der „sexuellen Frage“ entwickelte sich für Pokrovskaja zum Schlüsselkonflikt, von dessen Lösung sie sich nicht nur die Überwindung patriarchalischer Verhältnisse versprach, sondern auch einen Durchbruch für ein besseres Leben der Menschen insgesamt. Folgerichtig ist das letzte und umfassendste Kapitel der Arbeit ihrem Wirken als Feministin zwischen 1904 und 1917 gewidmet. Mar’ja Pokrovskaja gehörte zu der Minderheit der russischen Frauenrechtlerinnen, die sich selbst als „Feministinnen“ bezeichneten – die Mehrheit, zu der auch Aleksandra Kolontaj zählte, lehnte den Begriff hingegen als „bourgeois“ und „separatistisch“ ab und forderten stattdessen den Primat der Klassenfrage vor der Frauenfrage. Hieraus erklärt sich auch der letztendlich nur sehr bescheidene Erfolg, den Pokrovskaja mit ihren feministischen Aktivitäten erreichte: Zwar rief sie 1904 mit dem Frauenboten (Ženskij Vestnik) die erste ausschließlich der Frauenfrage gewidmete russische Zeitschrift ins Leben, die zudem zwischen 1904 und 1917 ohne Unterbrechung jeden Monat erschien, und 1906 initiierte sie die Gründung der Progressiven Frauenpartei (Ženskaja Progressivnaja Partija), die für die konsequente politische Gleichberechtigung der Frauen eintrat. Die vehemente Ablehnung eines gewaltsamen Umsturzes sowie die Weigerung, den Feminismus einem Klassenstandpunkt unterzuordnen, brachten ihr jedoch viel Kritik aus den revolutionären Gruppen ein. Sowohl ihrer Zeitschrift wie auch der Partei mangelte es an finanzieller und personeller Unterstützung, und im Herbst 1917 zog sie ein desillusioniertes Fazit: Die Frauen hätten geglaubt, die Revolution würde ihnen die Gleichberechtigung bringen. Tatsächlich seien die Arbeiter in dieser Hinsicht aber kein Stück besser als der Bourgeois.
Die gut lesbare und mit umfangreichen Anhängen versehene Arbeit von Angelika Strobel verdeutlicht das Potential, das biographischen Zugängen innewohnt. Am Beispiel der Person Mar’ja Pokrovskajas führt sie mehrere Lebens- und Handlungsbereiche zusammen, die ansonsten zumeist getrennt voneinander betrachtet werden, und kann anschaulich darstellen, wie diese Bereiche miteinander verwoben waren und welchen Handlungsspielraum das Individuum in diesem Geflecht hatte. Die Biographie Pokrovskajas zeugt sowohl von den ermöglichenden wie auch von den einschränkenden Wirkungen der umgebenden Strukturen. Insbesondere die Bedeutung der Alltagserfahrungen als Armenärztin in Petersburg für ihre spätere Politisierung wird sehr überzeugend herausgearbeitet. Angelika Strobels Arbeit gehört zu den ersten, die dies thematisieren, und bietet damit auch Anknüpfungspunkte für zukünftige Studien.
Zitierweise: Hans-Christian Petersen über: Angelika Strobel: Mar’ja Ivanovna Pokrovskaja. Ärztin, Hygienikerin, Feministin (1852–1922). Saarbrücken: VDM, 2010. 204 S. ISBN: 978-3-639-11830-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Petersen_Strobel_Marja_Ivanovna_Pokrovskaja.html (Datum des Seitenbesuchs)
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