Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Donald J. Raleigh: Soviet Baby Boomers. An Oral History of Russias Cold War Generation. New York, Oxford: Oxford University Press, 2012. XI, 420 S., Abb. ISBN: 978-0-19-974434-3.

Die Generation derjenigen, die in den Jahren 1949/50 geboren wurden, erlebten eine Sowjetunion ohne Krieg, das Tauwetter der 1950er Jahre und den spürbar wachsenden Konsum in den 1960er Jahren, die Zeit der sogenanntenStagnationseit den späten 1970er Jahren sowie die turbulenten Zeiten der Perestroika. Don Raleighs Untersuchung dieser Generation endet nicht mit dem Untergang der Sowjetunion, sondern führt die Erzählung bis ins heutige Russland unter (Minister-)Präsident Putin fort. Anhand zweier Schulklassen, die 1967 ihren Abschluss in Moskau und Saratov ablegten, untersucht der Autor zahlreiche Fragen: Wie lebte es sichsowjetischin Zeiten des Kalten Krieges? Was prägte die Ansichten dieser Generation der Baby Boomer? Was können uns diese Lebensgeschichten über densowjetischen Traumverraten? Wie verarbeitete diese Generation den Übergang in die post-sowjetischen 1990er Jahre? Inwiefern beeinflussten diese Lebensgeschichten den Lauf der sowjetischen, respektive russischen Geschichte? Und worin unterscheiden sich die Erinnerungen der Moskauer von der Saratover Abschlussklasse?

Als Quellen zur Beantwortung dieser Fragen stützt sich Don Raleigh ausschließlich auf rund 60 von ihm seit der Jahrtausendwende geführte Ìnterviews. Manche der Interviewten leben noch immer in Moskau oder Saratov, andere sind in die Vereinigten Staaten oder nach Israel emigriert. Bis auf wenige Ausnahmen gelang es Raleigh, die Moskauer und Saratover Schulabsolventinnen und -absolventen ausfindig zu machen. Die Interviews folgten einem groben Leitfaden, acht davon sind in dem 2006 erschienenen Buch des Autors Russias Sputnik Generationnachzulesen. Donald Raleigh ist sich dessen bewusst, dass Oral History weniger die historischen Ereignisse selbst abzubilden in der Lage ist, als vielmehr einen Zugang zur Bedeutung dieser Ereignisse in den individuellen Lebenserinnerungen dieser Generation heute liefert. Dabei stellt er Ähnlichkeiten wie Unterschiede zwischen diesen Erinnerungen fest, wie auch Widersprüche innerhalb der Erinnerungen einer einzelnen Person. Raleigh verwebt diese Erzählungen zu einer Kollektivbiographie, die mehr auszusagen in der Lage ist als die bloße Summe ihrer einzelnen Teile. Die Interviewten kommen ausführlich zu Wort, während sich der Historiker Raleigh bei interpretatorischen oder analytischen Stellungnahmen zurückhält. Die großen Themen, die Raleighs Fragen immer wieder streifen, sind Familie, Arbeit, Generation, Antisemitismus, Stagnation und die Frage danach, wer eigentlich dietrue believers, die überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, waren.

Familie und Generation bilden die große Klammer des ersten Kapitels, das sich vor allem den Erinnerungen an die Eltern widmet und etwa danach fragt, welche Rolle das Erleben desGroßen Vaterländischen Kriegesfür Eltern und Kinder gleichermaßen hatte. Der Tod Stalins im Jahre 1953 spielt in den Erinnerungen an die Eltern und dabei, wie diese das Ereignis wahrgenommen haben mögen, eine ebenso entscheidende Rolle. Obwohl die Interviewten damals lediglich drei oder vier Jahre alt gewesen waren, behaupten manche, sich an den März 1953 erinnern zu können. Dieses Erinnern interpretiert Raleigh leider nicht als Zeichen dafür, wie einschneidend der Tod Stalins tatsächlich gewesen sein mag beziehungsweise wie einschneidend dieses Ereignis später empfunden wurde.

Für Raleigh hat die Frage nach der Familiengeschichte eine entscheidende Bedeutung, wobei es ihm darum geht zu zeigen, wie die Entstehung der Kleinfamilie zusammen mit dem Auftauchen der erstenPrivatwohnungendie Entwicklung einer Sphäre beförderte, die nicht notwendig mit den Vorgaben der Partei und der Führung in Übereinstimmung stehen musste. Den Bezug der eigenen vier Wände liest Raleigh somit als Bedingung der Möglichkeit für abweichende und potentiell nicht-sowjetische Meinungen. Er bestätigt somit die Dichotomie von privat und öffentlich, die jahrelang die Sowjetunionforschung geprägt hatte und wendet sich so implizit gegen neuere Forschungsmeinungen, die genau jene Dichotomie in Frage stellen.

Die Schulzeit als eine zentrale prägende Institution für die Generation der Baby Boomer ist das Thema der nächsten beiden Kapitel. Die Erinnerungen an die „sowjetischeSchulzeit bestechen vor allem dadurch, dass diese sosowjetisch“ gar nicht war. Die meisten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erinnern sich mit Freuden an die aufregenden Schuljahre, in denen sie viel erlebten, sich häufig mit Freunden trafen, unablässig lasen oder sich das erste Mal verliebten. Lehrer gab es gute wie schlechte; und während die Saratover Direktorin ein wahrerSchuldrachenwar, drückte der Moskauer Direktor gerne mal ein Auge zu, wenn seine Zöglinge über die Stränge schlugen. Dass die Baby Boomer ihre Schulzeit während des Tauwetters absolvierten, spielt in ihren Erinnerungen zumeist kaum eine Rolle.

Gleichwohl, so Raleigh, entstand in eben jenen Jahren der Nährboden für jenen Zynismus, der sich in den 1970er Jahren geltend machen sollte und diese Generation zuunbewussten Vollstreckern (agents) des Wandelsmachte. Dazu gehörte das Hören westlicher Musik (allen voran die Beatles), das Lesen von Samizdat-Literatur oder das beständigebesorgen(dostat) von wichtigen Konsumgütern, die eher durch inoffizielle Kanäle zu ergattern waren als dadurch, dass man sie im Laden gekauft hätte. Mit anderen Worten: Das, was man als dezidiertsowjetischverstehen könntewie etwa das umständliche Funktionieren der sowjetischen Planwirtschafterscheint zugleich als Grund für den Zusammenbruch 1991. Auch hier bleibt Raleigh im Fahrwasser der traditionellen Geschichtsschreibung und kann nicht vermeiden, die Sowjetunion von ihrem Ende her zu denken. Die Frage, warum u.a. das Hören der Beatles ein Beitrag zum Ende der Sowjetunion war, ließe sich allerdings auch anders formulieren: War nicht das Hören der Beatles ein Ausdruck der Normalisierung, ein Ausdruck dessen, dass die Sowjetunion existieren konnte, ungeachtet dessen, ob Menschen nun Beatles oder sowjetische Arbeiterlieder hörten?

Im vierten und fünften Kapitel stehen die 1970er Jahre im Vordergrund, die Jahre also, die üblicherweise als Zeit der Stagnation bezeichnet werden, obgleich sich seit geraumer Zeit vor allem jüngere Forscherinnen und Forscher um andere Begrifflichkeiten bemühen. Hier ist es die Frage nach dem sowjetischen Traum und die Suche nach den wahrhaften Kommunisten, was die Kapitel jeweils strukturiert. Der feste Arbeitsplatz war ein zentraler Bestandteil der sowjetischen Lebensweise, wie auch die widersprüchliche Überzeugung, dass in der Partei nur die Machtbesessenen saßen, man aber gleichwohl Parteimitglied werden musste, um in der Sowjetunion etwas verändern zu können. Und verändern wollten die meisten der Interviewten etwas: Reformen waren nötig, so das rückblickende Urteil. Dass allerdings der Reformwille in den Zusammenbruch des sowjetischen Systems mündete, scheint den wenigsten Baby Boomern ein Anliegen gewesen zu sein. So stellen sie zwar im Nachhinein fest, dass sie in der Regel nun besser (manchmal auch nur anders) als früher leben; dass sie dieses andere Leben aber in den 1970ern bereits hätten führen wollen, davon sagen sie nichts. Viele glaubten an den Kommunismus, wenn auch nicht an die Sowjetunionein gewichtiger Unterschied, der bei Raleigh leider nicht deutlich genug herausgearbeitet wird.

Die letzten beiden Kapitel schließlich widmen sich dem Umbruch der Perestroika sowie der Regierungszeit Jelzins und Putins. Viele der Interviewten sahen getreu dem MottoEverything was forever until it was no moreden Zusammenbruch der Sowjetunion mitnichten heraufziehen. Doch ähnlich wie in den Jahren bis 1991 richtete man sich auch in den neuen post-sowjetischen Verhältnissen ein, die in mancher Hinsicht als besser wahrgenommen werden: es gibt Warenund in mancher Hinsicht auch als schlechter: viele der Waren kann man sich nicht leisten. Dass die Anpassung an die neuen Zeiten zum Teil womöglich traumatischer war, als es die Interviewten zugeben möchten, macht sich unter anderem an den vielen Verweisen auf das bessere Zurechtkommen und Zurechtfinden der eigenen Kinder bemerkbar.

Soviet Baby Boomersgibt der Generation derSemidesjatnikieine Stimme, die insgesamt als wenigerpolitischscheinen als ihre Vorgängergeneration derSechziger, von denen sich viele in der Dissidentinnen- und Dissidentenbewegung wiederfanden. Warum sich die Generation des Abschlussjahres 1967 scheinbar so anders verhielt und eher schicksalsergebensowjetischlebte, wäre eine der offen gebliebenen Fragen, die man nun auf Basis des von Raleigh vorgelegten Buches stellen kann. Ein Buch wie dieses, in dem die Generation der Baby Boomer zu Wort kommt, war vor allem seit dem Anwachsen des Interesses für die letzten Jahrzehnte der Sowjetunion mehr als überfällig.

Alexandra Oberländer, Bremen/Berlin

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Donald J. Raleigh: Soviet Baby Boomers. An Oral History of Russia’s Cold War Generation. New York, Oxford: Oxford University Press, 2012. XI, 420 S., Abb. ISBN: 978-0-19-974434-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Raleigh_Soviet_Baby_Boomers.html (Datum des Seitenbesuchs)

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