Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Michail Ju. Pavlov: Anastas Mikojan. Političeskij portret na fone sovetskoj ėpochi [Anastas Mikojan. Ein politisches Porträt vor dem Hintergrund der Sowjetepoche]. Moskva: Meždunarodnye otnošenija, 2010. 415 S. Abb. ISBN: 978-5-7133-1364-7.

Wissenschaftlich fundierte Biographien sowjetischer Politiker sind nach wie vor Mangelware. Zu den Spitzenfunktionären, die von der Forschung bisher stiefmütterlich behandelt wurden, gehört auch der Armenier Anastas Mikojan (18951978). Er ist der Nachwelt vor allem dadurch in Erinnerung geblieben, dass er über vier Jahrzehnte hinweg (19261966) dem Politbüro angehörte und jeden Herrscherwechsel unbeschadet zu überstehen vermochte. Als Inhaber verschiedener Posten, sei es als Volkskommissar für Handel, Versorgung und Lebensmittelindustrie oder als Erster Stellvertretender Ministerpräsident, zählte Mikojan zu den wichtigsten Entscheidungsträgern und zu Stalins und Chruščevs engsten Mitarbeitern. In Russland gilt der Armenier noch heute als „guter Bolschewik“, der in Stalins Terrorherrschaft nicht verstrickt gewesen sei und stattdessen die Sowjetbürger mit Kühlschränken, Speiseeis und Dosengemüse beglückt habe. Die bei russischen Autoren mitunter zu beobachtende Neigung, über Mikojans Tätigkeit in der Stalin-Zeit schnell und unkritisch hinwegzugehen, um dann umso ausführlicher und mit einem bewundernden Unterton sein Wirken in der Ära Chruščev zu untersuchen, ist auch in dem vorliegenden Buch des Historikers Michail Pavlov zu spüren. Die Chruščev-Zeit nimmt darin deutlich mehr Raum ein als die 1920er und 1930er Jahre. An fehlenden Quellen kann es nicht liegen, dass Pavlov die Stalin-Zeit so eilig abhandelt. Wie der Rezensent, der selbst an einer Mikojan-Biographie arbeitet, aus eigener Erfahrung sagen kann, ist Mikojans Wirken bis 1953 quellenmäßig weitaus besser dokumentiert als der Karriereabschnitt nach Stalins Tod. (Der Zugang zu Archivbeständen der Chruščev-Zeit ist nach wie vor beschränkt.)

Da Pavlovs Buch die erste größere Arbeit über Mikojan ist, verdient es eine aufmerksame Lektüre. Das Werk besitzt unbestreitbare Vorzüge: Der Autor schlägt durchweg einen sachlichen Ton an und vermeidet jegliche Spekulation und Sensationshascherei, wie sie für viele biographische und sonstige Bücher zur Sowjetzeit typisch ist, die heutzutage die Regale russischer Buchhandlungen füllen. Außerdem hat Pavlov in achtbarem Umfang Archivmaterial gesichtet, vor allem Akten aus Mikojans persönlichem Fonds (ličnyj fond) im ehemaligen Parteiarchiv. Das Bemühen, diese erste umfassende Untersuchung zu Mikojans langer Karriere auf eine solide und nachprüfbare Quellengrundlage zu stellen, verdient Anerkennung. Allein schon dadurch hebt sich das Buch positiv von den Werken vieler russischer Autoren ab, die sich auf dem Feld der Zeitgeschichte tummeln.

Umso bedauerlicher ist es, dass diesen Stärken einige schwerwiegende Schwächen gegenüberstehen. Abgesehen von fünf Ausnahmen hat Pavlov keinerlei westliche Sekundärliteratur verwendet, was dazu führt, dass sich vor allem die Kapitel über die NÖP, die Stalin-Zeit und den Großen Terror nicht auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes bewegen. Pavlovs eigene Archivrecherchen waren nicht breitgefächert und tiefgründig genug, um die mangelnde Rezeption der westlichen Forschung wettzumachen. Das Buch kommt ohne Fragestellungen und ohne klar definiertes Erkenntnisinteresse aus. Es verfolgt einen rein dokumentarisch-faktologischen Ansatz und wird letztlich nur von Mikojans Ämterlaufbahn strukturiert. Pavlov unternimmt keinen Versuch zu klären, welchen Beitrag eine Mikojan-Biographie zum Verständnis der sowjetischen Geschichte zwischen Lenins Tod und Chruščevs Sturz leisten kann.

Allzu oft wird der Gang der Darstellung von archivalischen Einzelfunden bestimmt, frei nach dem zweifelhaften Prinzip „Ein Dokument – ein Absatz“. Viele verschiedene Themen werden auf diese Weise zwar angerissen, aber nicht wirklich zufriedenstellend behandelt. Namentlich die Kapitel über die 1920er und 1930er Jahre sind inhaltlich verworren und nahezu unbrauchbar. Es ist für den Leser nicht nachvollziehbar, warum bald dieser, bald jener Aspekt angesprochen und dann gleichsam im Vorbeigehen rasch abgehandelt wird. Auch springen etliche Lücken ins Auge: Der sowjetische Außenhandel der späten 1920er Jahre wird angeschnitten, während die gleichzeitig unternommene Zurückdrängung und Zerstörung des privaten Handels im Innern mit keinem Wort erwähnt wird. Hatte Mikojan damit – und auch mit der Zwangskollektivierung – etwa nichts zu tun? Zu oft lässt es Pavlov damit bewenden, Dokumente zu paraphrasieren oder wörtlich zu zitieren (manchmal sogar voll­ständig), so als bedürften sie keiner Interpretation und Einordnung in bestimmte historische Zusammenhänge. Eine Kontextualisierung von Mikojans Leben und politischer Karriere erfolgt nur ansatzweise, wenn überhaupt. Somit erschließt sich nicht, unter welchen konkreten Bedingungen Mikojan arbeiten musste, was er unter diesen Bedingungen leisten konnte – und was nicht. Pavlovs Urteile über die Leistungen und Verdienste seines Protagonisten fallen daher bisweilen ungerechtfertigt positiv aus. Der von Mikojan geleitete Aufbau der sowjetischen Lebensmittelindustrie wird auf inakzeptabel naive Weise als hundertprozentige Erfolgsgeschichte dargestellt, obgleich sich gerade hier die Gelegenheit geboten hätte, die dysfunktionalen Züge des stalinistischen Wirtschaftssystems und ihre Rückwirkung auf die Schöpfer dieses Systems zu problematisieren.

Nirgendwo unternimmt der Autor den Versuch, Mikojans Habitus, sein politisches Denken sowie seinen Arbeits- und Führungsstil zu charakterisieren. Über die Jugend seines Protagonisten geht Pavlov mit wenigen Zeilen hinweg, ohne sich zu fragen, welche soziokulturellen Prägungen Mikojan im Kaukasus empfing und warum er sich den Bolschewiki anschloss. Bei Pavlov vollzieht sich Mikojans ganzes Leben vollkommen voraussetzungslos. Sein persönliches Verhältnis zu den Parteiführern Stalin und Chruščev, der wichtigste Faktor, der den Handlungs- und Gestaltungsspielraum eines jeden sowjetischen Spitzenfunktionärs beeinflusste, wird nirgends systematisch untersucht. Das eigentümliche Kreml-Milieu, die enge Verquickung von politischer Zusammenarbeit und privatem Umgang, wird vollkommen ausgeblendet. Auch und gerade dieser Aspekt gehört zu dem im Untertitel genannten „Hinter­grund“, vor dem sich Mikojans Karriere vollzog. Was der ganzen Darstellung fehlt, ist eben dieser Hintergrund – und damit die nötige Tiefendimension. Bei einigen ‚heiklen‘ Themen, besonders der Verstrickung Mikojans in die Kollektivierung und den Großen Terror, drängt sich der Verdacht auf, dass der Autor entweder ganz weggesehen oder nicht so genau hingeschaut hat, um seinen Protagonisten zu schonen.

Besser gelungen sind die Kapitel über die Ära Chruščev. Die bedeutsame Rolle, die Mikojan während der Entstalinisierung, des Ungarn-Aufstandes, der Berlin-Krise und der Kuba-Krise spielte, ist hinlänglich bekannt. Zu Recht würdigt der Autor Mikojans Eintreten für ein Ende des Stalinschen Terrorregiments und für eine Außenpolitik, die auf Verständigung statt auf Konfrontation setzte. Mehr als einmal musste Mikojan den Schaden beheben, den Chruščev auf dem Felde der Außenpolitik angerichtet hatte. Neu ist das alles nicht, aber es ist zu begrüßen, dass Mikojans Beitrag zur Außenpolitik der Ära Chruščev einmal umfassend dargestellt wird. Insgesamt verdeutlicht Pavlovs Buch, wie weit der Weg noch ist, den die russische Zeitgeschichtsforschung zurücklegen muss, bis sie Biographien vorlegen kann, die wissenschaftlichen Ansprüchen nicht nur in formaler, sondern auch inhaltlicher Hinsicht genügen.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Michail Ju. Pavlov: Anastas Mikojan. Političeskij portret na fone sovetskoj ėpochi [Anastas Mikojan. Ein politisches Porträt vor dem Hintergrund der Sowjetepoche]. Moskva: Meždunarodnye otnošenija, 2010. 415 S. Abb. ISBN: 978-5-7133-1364-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberender_Pavlov_Anastas_Mikojan.html (Datum des Seitenbesuchs)

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