Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martina Niedhammer

 

Joseph Opatoshu. A Yiddish Writer between Europe and America. Ed. by Sabine Koller / Gennady Estraikh / Mikhail Krutikov. London: Legenda, 2013. IX, 272 S., Abb. = Studies in Yiddish, 11. ISBN: 978-1-907975-60-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Joseph Opatoshu. A Yiddish Writer between Europe and America – der Titel des 2013 bei Legenda in London erschienenen Sammelbandes ist ebenso unauffällig wie programmatisch. Er fasst nicht nur die Ergebnisse einer 2012 in Regensburg veranstalteten Tagung zusammen, sondern bietet zugleich Einblick in Selbstverständnis, Arbeitsweise, Werk und Wirkung eines der produktivsten und bedeutendsten jiddischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Joseph Opatoshu wurde 1886 im russischen Teilungsgebiet Polens geboren und starb 1954 in New York. 1907 emigrierte er in die USA, wo er bald Zugang zu der zu jener Zeit regen jiddischen literarischen Szene fand. Seit ihrer Gründung im Jahr 1914 schrieb er regelmäßig für die New Yorker Tageszeitung Der tog (Der Tag), für deren Leser er mit seinen Kurzgeschichten und Fortsetzungsromanen im Laufe von 40 Jahren zu einer festen Institution werden sollte. Doch auch die Verbindung zu seiner früheren Heimat und seinen dortigen Lesern ließ Opatoshu nicht abreißen; eine intensive Reise- und Vortragstätigkeit führte ihn bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs immer wieder in das europäische „Yiddishland“, das heißt in die polnischen und sowjetischen Zentren des jiddischen Verlags- und Kulturwesens der Zwischenkriegszeit, nach Wilna, Warschau, Minsk, Kiew und Moskau.

Trotz dieses regen Engagements in und für die jiddische Sprache geriet Opatoshus Werk nach seinem Tod ganz aus dem Blickwinkel von Philologen und Kulturwissenschaftlern. So nennt das Standardlexikon für jüdische Geschichte und Kultur, die 2007 neu aufgelegte Encyclopaedia Judaica, kaum Literatur zu seiner Person; die wenigen vorhandenen Studien sind meist jiddischsprachig und allesamt älteren Datums. In dieser Hinsicht leistet der vorliegende Sammelband wichtige Arbeit, doch erschöpft sich sein Verdienst keineswegs im bloßen Füllen einer Forschungslücke. Bemerkenswert erscheinen vielmehr zwei andere Aspekte: Zum einen der geglückte Brückenschlag zwischen Jiddistik und Slawistik, der den Band für einen größeren, auch komparatistisch interessierten Leserkreis prädestiniert; zum anderen der spannungsreich nachgezeichnete Bogen, der Europa und Amerika in Opatoshus Biographie und Werk verbindet. Beide Gesichtspunkte spiegeln sich sowohl im Kreis der Herausgeber als auch der Autoren wider, die einerseits jiddistische und slawistische Forschungsschwerpunkte besitzen und andererseits mehrheitlich einem US-amerikanischen oder einem europäischen Wissenschafts­umfeld entstammen.

In ihrer Einleitung stellen die drei Herausgeber Sabine Koller, Gennady Estraikh und Mikhail Krutikov Opatoshus literarisches Ringen um „Yidishkayt“, die Suche nach Sinnhaftigkeit und Manifestation jüdischer Identität in der Moderne, in den Mittelpunkt. Dieser Schlüsselbegriff zieht sich wie ein roter Faden durch den Sammelband, wenn auch bedauerlicherweise nicht in allen Beiträgen mit derselben Stringenz. Als Angelpunkte der einzelnen Aufsätze dienen meist ein oder mehrere Texte Opatoshus, so gleich viermal die Erzählung In poylishe velder (In polnischen Wäldern), zweimal A tog in Regensburg (Ein Tag in Regensburg) oder, ebenfalls zweimal, Di tentserin (Die Tänzerin). Ausgehend von diesen Werken arbeiten die Beiträge Opatoshus Selbstverortung zwischen Europa und Amerika, seinen Blick auf die dortigen jüdischen Gemeinschaften, sein Verständnis von der Rolle des Jiddischen sowie einzelne Aspekte seiner Rezeptionsgeschichte heraus.

Viele Beobachtungen und Erkenntnisse erscheinen dabei bedeutsam: etwa die Interferenzen in Opatoshus Schaffen mit Werken der russischen und polnischen Literatur, wie sie die Beiträge von Sabine Koller und Harriet Murav aufzeigen; sein skeptischer Blick auf das jüdische Leben Nordamerikas, dessen wesentliche Quelle – die jiddische Sprache und Kultur der osteuropäischen Heimat – Opatoshu nicht zuletzt aufgrund assimilatorischer Bestrebungen der zweiten Einwanderergeneration als stark gefährdet wahrnahm, wie unter anderem die Aufsätze von Jan Schwarz, Avraham Novershtern und Mikhail Krutikov belegen; schließlich Opatoshus ambivalentes Verhältnis zum Europa der Zwischenkriegszeit, in dem lange der von Sympathie gelenkte Blick auf die Sowjetunion über die vermeintliche Stagnation der polnischen Heimat dominierte, wie Genna­dy Estraikh in seinem spannenden Beitrag darlegt. Weitere Themenfelder, die hier nur angerissen werden können, setzen sich mit Opatoshus Darstellung rassistisch motivierter Gewalt in den USA und der Frage ihrer literarischen Umsetzbarkeit in jiddischer Sprache (Marc Caplan) sowie der Vermittlung von Opatoshus Werk an Kinder und Jugendliche (Evita Wiecki) auseinander.

Den Band runden ein biographischer Essay, angereichert mit zahlreichen bislang unveröffentlichten Familienfotos, aus der Feder von Opatoshus Enkel Dan sowie die bislang umfangreichste Bibliographie zum Werk Opatoshus, zusammengestellt von Holger Nath, ab. Er könnte den Auftakt bilden zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem lange vernachlässigten Erbe eines faszinierenden Schriftstellers zwischen zwei Welten.

Martina Niedhammer, München

Zitierweise: Martina Niedhammer über: Joseph Opatoshu. A Yiddish Writer between Europe and America. Ed. by Sabine Koller / Gennady Estraikh / Mikhail Krutikov. London: Legenda, 2013. IX, 272 S., Abb. = Studies in Yiddish, 11. ISBN: 978-1-907975-60-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Niedhammer_Koller_Joseph_Opatoshu.html (Datum des Seitenbesuchs)

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