Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Martina Niedhammer
Eszter B. Gantner: Budapest – Berlin. Die Koordination einer Emigration 1919–1933. Stuttgart: Steiner, 2011. 264 S. = Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 39. 264 S. ISBN: 978-3-515-09920-2.
In ihrer 2011 veröffentlichten Dissertation beschäftigt sich Eszter B. Gantner mit der Migration ungarisch-jüdischer Intellektueller der Zwischenkriegszeit, die ihr Land nach dem Scheitern der Räterepublik 1919 verlassen mussten und mehrheitlich in Berlin eine neue Heimat fanden. Was auf den ersten Blick den Eindruck einer räumlich und zeitlich eng begrenzten Fallstudie erweckt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ambitioniertes Vorhaben, das Fragestellungen aus verschiedenen historischen Disziplinen vereint und einen relativ langen Untersuchungszeitraum von rund sechzig Jahren in den Blick nimmt. Mittels eines Fokus auf die zahlenmäßig relativ bedeutende Gruppe der politisch aktiven ungarischen Intelligenzija verfolgt die Autorin im Wesentlichen drei Anliegen: Zum einen möchte sie die biographische Heterogenität der sogenannten progressiven Bewegung in Ungarn aufzeigen, einer politischen Strömung, die sich dem Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst, Literatur und Wissenschaft verschrieben hatte. In diesem Zusammenhang hinterfragt Gantner die in der ungarischsprachigen Forschung bislang dominierende Annahme, dass die Mehrheit der politisch engagierten Intellektuellen aus dem jüdischen Groß- und Mittelbürgertum gestammt habe. Zum anderen geht die Autorin den Gründen nach, weshalb gerade das Berlin der Weimarer Republik eine so große Strahlkraft für ostmitteleuropäische Intellektuelle besaß und so – wie bereits der Buchtitel andeutet – für die ungarisch-jüdischen Migranten zum maßgeblichen räumlichen und geistigen Bezugspunkt der 1920er Jahre werden konnte. In einem dritten Schritt möchte Gantner die Netzwerke nachzeichnen, auf die sich ungarische Migranten nach ihrer Flucht aus ihrem Heimatland stützen konnten. Diese komplexe Fragestellung ist gleichermaßen Stärke wie Schwäche der Arbeit: Einerseits eröffnet die Autorin neue Perspektiven auf die innerhalb der deutschsprachigen Ostmitteleuropaforschung immer noch vernachlässigte ungarische Geschichte und liefert zugleich auch für die jüdische Geschichtsschreibung wichtige Erkenntnisse. Andererseits gelingt es ihr nicht durchgängig, ihr Vorhaben methodisch und narrativ überzeugend umzusetzen. Zuweilen gerät der rote Faden aus dem Blick und der Text droht, in kleine Einzelstudien zu zerfallen.
Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert. Dabei ist auffällig, dass sich lediglich der letzte Abschnitt mit der Berliner Emigrationszeit im engeren Sinne befasst, während die ersten drei Kapitel die Vorgeschichte der politischen ungarischen Emigration von 1918/19 behandeln. Im ersten Abschnitt erhält der Leser einen Überblick über die ungarisch-jüdische Geschichte seit der Emanzipation der habsburgischen Juden im Jahr 1867. Besondere Aufmerksamkeit widmet Gantner dabei dem Einfluss der deutschen Sprache und Kultur, die im Bildungskanon des jüdischen Bürgertums trotz einer fortschreitenden Akkulturation an die ungarischsprachige Mehrheitsgesellschaft einen hohen Stellenwert besessen hätten. So seien viele ungarische Juden um die Jahrhundertwende zweisprachig aufgewachsen und hätten ihre Kenntnisse der deutschsprachigen Kultur während Studienaufenthalten an deutschen Universitäten vertieft. Eine besonders beliebte akademische Station sei Berlin gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil es aus ungarischer Sicht als moderner, fortschrittlicher Antagonist der unpopulären Reichshauptstadt Wien galt und daher über besonderes symbolisches Kapital verfügte. Für viele der späteren politischen Flüchtlinge sei die in ihrer Kindheit und Jugend erworbene „Mobilität zwischen den Kulturen“ (S. 74) während ihrer Emigration von großer Bedeutung gewesen, da sie an bereits vor dem Ersten Weltkrieg bestehende Kontakte anknüpfen konnten. Das zweite Kapitel nimmt das für die Vertreter der progressiven Bewegungen prägende intellektuelle Milieu Budapests vor und während des Ersten Weltkriegs in den Blick. Vorgestellt werden sechs „‚Werkstätten‘ und Netzwerke der Moderne“ (vgl. Kapitelüberschrift 2): die Zeitung „Huszadik Század“ und die ihr nahestehende Soziologische Gesellschaft sowie der Kreis um die avantgardistische Zeitschrift „MA“; ferner der von kleinbürgerlichen jüdischen Studierenden getragene Galilei-Kreis, dessen Schwerpunkt auf der Bildungsarbeit lag, und der überwiegend von Vertretern der akkulturierten jüdischen Mittelschicht besuchte philosophische Sonntagskreis; schließlich die expressionistische Künstlervereinigung „Die Achten“. Alle Gruppierungen einte eine – freilich unterschiedlich stark ausgeprägte – sozialdemokratische Tradition sowie die Tatsache, dass sich viele ihrer Mitglieder untereinander kannten und mehr oder minder intensiven Anteil an den Aktivitäten der anderen Zirkel nahmen. Anhand einer Analyse der ideologischen Konzeption und der personellen Zusammensetzung dieser Gruppierungen gelingt es Gantner, zentrale linksintellektuelle ungarische Netzwerke vor 1918/19 zu identifizieren, deren Ausläufer sie, wie das vierte Kapitel zeigt, bis in die Zeit der Berliner Emigration nachverfolgen kann.
Die Ereignisse, die zur Flucht aus Ungarn führten – die Revolutionen von 1918/19, an denen zahlreiche Mitglieder der progressiven Bewegung beteiligt waren – stehen im Mittelpunkt des dritten Abschnitts der Arbeit. Darin beschäftigt sich die Autorin auch mit den ersten Stationen der Emigranten im Ausland, und sie versucht anhand von fünf biographischen Fallstudien nachzuvollziehen, weshalb sich ungarisch-jüdische Intellektuelle schließlich mehrheitlich nach Berlin orientierten. Der oftmals schwierige Alltag in der deutschen Hauptstadt sowie die privaten und institutionellen Anlaufstellen der Emigranten werden im letzten Kapitel ausführlich, teilweise erneut mithilfe biographischer Kurzporträts, thematisiert.
Die Studie zeichnet sich vor allem durch ihren differenzierten Blick auf das ungarische Judentum im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aus. So kann die Autorin überzeugend darlegen, dass die progressive Bewegung zwar stark von ihren jüdischen Anhängern geprägt wurde, dass diese jedoch keineswegs eine homogene Gruppe bildeten, sondern sowohl, was ihre geographische als auch ihre soziale Herkunft anbelangte, aus sehr verschiedenen Elternhäusern stammten. Darüber hinaus verweist Gantner auf den gern vernachlässigten Umstand, dass auch nichtjüdische Intellektuelle an verschiedenen Zirkeln der progressiven Bewegung teilnahmen, weshalb diese als wichtige interethnische bzw. interkonfessionelle Begegnungsstätte zu betrachten seien. Weniger plausibel ist die Deutung Berlins als alleiniger Angelpunkt der ungarisch-jüdischen politischen Emigration nach dem Ersten Weltkrieg. Hier stellt sich, auch angesichts der generell dünnen Quellenlage, die Frage, weshalb nicht weitere Stationen der Emigration wie etwa Moskau oder New York in die Untersuchung einbezogen wurden. Bedauerlich ist darüber hinaus, dass Gantner in ihrer Einleitung zwar dezidiert auf verschiedene methodische Analyseinstrumente für das häufig komplexe Selbstverständnis jüdischer Akteure eingeht, diese jedoch bei ihrer Quellenauswertung kaum anwendet. Einige der erwähnten Kurzbiographien erscheinen daher farblos. Abhilfe hätte hier vielleicht auch eine Einbeziehung visueller Quellen wie Fotografien und Gemälde gebracht. Schließlich zeichnet sich der Text durch gewisse Redundanzen und Wiederholungen aus, die, ebenso wie störende Layoutfehler, ein sorgfältigeres Lektorat hätte verhindern können. Dies ist allerdings weniger der Autorin, als vielmehr dem Verlag anzulasten.
Martina Niedhammer, München
Zitierweise: Martina Niedhammer über: Eszter B. Gantner: Budapest – Berlin. Die Koordination einer Emigration 1919–1933. Stuttgart: Steiner, 2011. 264 S. = Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, 39. 264 S. ISBN: 978-3-515-09920-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Niedhammer_Gantner_Budapest_Berlin.html (Datum des Seitenbesuchs)
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