Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Oksana Nagornaja

 

Stephan Merl: Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich. Göttingen: Wallstein, 2012. 184 S. = Das Politische als Kommunikation, 9. ISBN: 978-3-8353-1153-4.

Eine vergleichende Analyse von europäischen Diktaturen ist keinesfalls ein neues Terrain für die historische Forschung. Trotzdem verliert dieses Thema nicht an Aktualität. Es werden immer wieder neue Perspektiven und Kriterien des Vergleichs entdeckt. In seiner (a)synchronen Vergleichsanalyse des nationalsozialistischen Deutschlands mit dem zeitlich früheren Stalinismus sowie der Sowjetunion der Nachkriegszeit und der DDR wählt Stefan Merl die politische Kommunikation als Schlüsselperspektive und fragt nach Methoden der Inklusion der Bevölkerung in die von oben bestimmte kollektive Identität, nach Techniken ihrer Bewahrung vor öffentlicher Kritik sowie nach der Anpassungsfähigkeit von Diktaturen an eine veränderte Realität.

Der Autor stützt sich auf eine breite Palette von Studien zu Diktaturen und zieht so eine Zwischenbilanz in der Entwicklung dieses Forschungsfeldes. Merl fasst nicht nur die Diskussionsergebnisse zusammen, sondern relativiert auch einige wissenschaftliche Vorstellungen, so z.B. über die Politisierung der Jugend in den Diktaturen, über die entscheidende Rolle der westlichen Konsumpropaganda beim Zusammenbruch der DDR, über die „Nischengesellschaft“. Einerseits spricht der Autor von dem absoluten Eindringen der Machtkommunikation in den Diktaturen, andererseits betont er, dass die neue Sprache hauptsächlich im städtischen Milieu wahrgenommen wurde und dass die private Sphäre in der DDR von diesem „Newspeaking“ unangetastet blieb. Die anspruchsvolle Aufgabe des Autors und vor allem der Entwicklungsstand der Diktaturforschung, die meistens dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus gewidmet ist, führen zu einem Ungleichgewicht der diachronen Analyse.

Als Hauptkanäle und ‑mittel der politischen Kommunikation betrachtet Merl traditionelle öffentliche Versammlungen mit ihrer ritualisierten Partizipation, ferner Unterhaltungsveranstaltungen, Zeitungen und Briefe. Letzteren schenkt der Autor eine besondere Aufmerksamkeit und unterstreicht ihre Rolle als Kontrollmechanismen für die Bürokratie vor Ort, als Feedback über die Wirksamkeit von Propaganda, als imaginierten Zusammenhang zwischen Bevölkerung und Herrschenden. Die den Briefen zugeschriebene Bedeutung für die politische Kommunikation in der Sowjetunion ist dabei jedoch übertrieben. Die unvollendete Alphabetisierung der Bevölkerung konnte nicht so schnell zu wirkungsvollen Ergebnissen und zu einer Umwandlung von Briefen in wirksame Kontroll- und Indoktrinierungsmechanismen führen. Dies bestätigt der Autor selbst, indem er die Zahl von „an die Macht Schreibenden“ als 2 Prozent der gesamten Bevölkerung angibt. Der Verzicht der anderen 98 Prozent, diese Kommunikationskanäle zu benutzen, bleibt ohne Interpretation.

Es wäre hier, wie auch in vielen anderen Fällen nicht nur ein Vergleich von Diktaturen wünschenswert, sondern eine Platzierung der Kommunikationspraktiken in einen allgemeinen Zivilisationskontext. Dies würde dann erlauben, eine Spezifik der politischen Kommunikation im Zusammenhang mit den politischen Regimen zu erarbeiten, oder umgekehrt über die allgemeinen, auch für „Demokratien“ charakteristische Indoktrinierungsprinzipien zu sprechen.

Eine der Schlüsselfragen der vorliegenden Studie ist der Versuch der Aufspürung von Anpassungsmechanismen in den Diktaturen. Der Autor geht von einer „enormen Plastizität“ von Diktaturen aus, analysiert aber auch die zahlreichen Störungen bei den Versuchen der Diktaturen, ihre kommunikativen Praktiken neuen Realitäten anzupassen. Ein Beispiel für solche Störungen ist die kommunikative Strategie von Nikita Chruščev. Denn obwohl dieser versuchte, an den entscheidenden Elementen der Kommunikation, die sich in der vorhergehenden Periode herausgebildet hatten, festzuhalten, näherte er sich gleichzeitig mit seinem populistischen Verhalten dem Volk und verletzte so die Immunität der kommunikativen Strukturen. Hingegen führt Merl als erfolgreiches Beispiel den Verzicht Brežnevs auf die Mobilisierungsdiktatur und die Transformation des Regimes in eine Gedächtnisdiktatur an. Dies gelang jedoch, laut Merl, nur der Sowjetunion. Gerade mit der Abkehr von kommunikativen Praktiken während der Perestrojka verbindet der Autor den Zusammenbruch von Diktaturen. Dass eine öffentliche Diskussion über den Weg zum Kommunismus und dessen endgültigen Gestalt erlaubt und sogar stimuliert wurde, führte zur unumkehrbaren Destabilisierung des Regimes. Nicht von ungefähr reagierte die ostdeutsche Führung negativ und schließlich „hilflos“ mit dem „Sputnik“-Verbot auf den alternativen Diskurs in der UdSSR. Den kommunikativen Raum konnte sie so nicht stabilisieren. Hier wäre für eine weitergehende Analyse die Heranziehung der für die Regime ‚neuen‘ Kommunikationsmittel, v. a. des Fernsehens, bereichernd.

Als einen der wichtigsten Kontrollmechanismen über die politische Kommunikation und die Handlungen der Bevölkerung betrachtet der Autor das „Hinwegsehen“ der Machthaber und ihr Abweichen von den von ihr selbst aufgestellten Normen. Die gleichen Verhaltensstrategien seien sowohl in der Wirtschaft (Zulassung korrupter Praktiken im Interesse der Realisierung von Planziffern), als auch in der Rechtspflege (Unbestimmtheit von Normen, zielgerichtet unterstützte Widersprüchlichkeit zwischen dem Gesetz und der Gerichtspraxis) weit verbreitet gewesen. Jedoch sehen die illustrativen Beispiele des Autors nicht immer überzeugend aus. Bezüglich des Hinwegsehens behandelt Merl das Gesetz über den Diebstahl sozialistischen Eigentums, das während der Hungerperiode 1932 in der UdSSR galt und den Normenverstoß mit der Todesstrafe bestrafte. Der Autor charakterisiert mehrere Tausende Erschießungen und strenge Strafen als „Toleranz“ der Machthaber und die Gefahr für die Bevölkerung, bestraft zu werden, als „eher beschränkt“. In diesem Fall sowie auch in anderen (etwa „styljagi“, das Anhören von westlichen Radiosendungen) ist fraglich, ob es um zielgerichtetes, strategisch angelegtes Regierungshandeln, um ein klares Regelverständnis seitens der Bevölkerung im Sinne eines „stillen Dealsmit den Herrschenden oder nicht eher um den improvisierten Charakter vieler politischer Entscheidungen und sogar Konzepte ging.

So hinterlässt der Autor beim Leser einen zwiespältigen Eindruck von der Kommunikationsweise der Diktaturen. Einerseits scheinen Diktaturen allgegenwärtige Chimären zu sein, die alle Schritte, auch die Reaktion der Gegner und der gehorsamen Untertanen, klar und ganz genau vorherberechneten (so erscheint dem Autor zufolge sogar die Zulassung der FKK-Bewegung durch die DDR-Führung als gezielte Maßnahme zur Entlastung der defizitären Leichtindustrie). Oft bekommt die Chimäre einen sehr spezifischen persönlichen Ausdruck in den Personen von Stalin, Hitler usw. Andererseits lassen sich durch alle Ritzen dieser (auch vom Autor des Buches) konstruierten „Monster“ Anzeichen von Spontaneität und Inkonsistenz, Improvisation, Hilflosigkeit beim Treffen von politischen Entscheidungen sowie eine auffallende Ähnlichkeit in der politischen Kommunikation mit „Nichtdiktaturen“ erkennen.

Oksana Nagornaja, Čeljabinsk

Zitierweise: Oksana Nagornaja über: Stephan Merl: Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich. Göttingen: Wallstein, 2012. 184 S. = Das Politische als Kommunikation, 9. ISBN: 978-3-8353-1153-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nagornaja_Merl_Politische_Kommunikation_in_der_Diktatur.html (Datum des Seitenbesuchs)

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