Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Oksana Nagornaja
Fedor A. Guščin, Sergej S. Žebrovskij: Plennye generaly Rossijskoj imperatorskoj armii 1914–1917. [Generäle der kaiserlichen russländischen Armee in Kriegsgefangenschaft 1914–1917.] Moskva: Russkij put’, 2010. 383 S., 16 Abb. ISBN: 978-5-85887-364-8.
Im Zeichen des bevorstehenden 100-jährigen Jubiläums des Ersten Weltkriegs registriert man im heutigen Russland eine bemerkenswerte und scheinbar eindeutige Tendenz zur Veränderung in der Erinnerungskultur. An die Stelle des vermeintlich „vergessenen Krieges“ rückt eine Glorifizierung der russischen Armee im Großen Krieg, die sich in zahlreichen Veranstaltungen und Genres widerspiegelt, sei es die von den staatlichen Institutionen inspirierte Gründung einer Erinnerungsgesellschaft oder die Eröffnung von Gedenkstätten und -tafeln für die „gefallenen Helden“ in Russland und in Europa, oder seien es Filme und Fernseherserien usw. Das vorliegende Buch von zwei Historikern, Fedor Guščin und Sergej Žebrovskij, scheint ein organischer Teil dieser Tendenz zu sein sowie eines in Russland grundsätzlich vorhandenen Interesses für die klassische Militärgeschichte und -archäologie (siehe z.B. mehrere enthusiastische Runet-Projekte der letzten Jahre).
Im ersten, kürzeren Teil beschreiben die Autoren die Umstände der Gefangennahme von Mitgliedern der russischen Militärelite am Beispiel massenhafter Fälle von Gefangennahme, die Situation in den Lagern, die Rückkehr aus der Gefangenschaft und das weitere Schicksal der Generäle. Im zweiten, größeren Teil versuchen die Autoren 66 Biographien von Generälen zu rekonstruieren. Der fragmentarische Zustand der Quellen erlaubt es jedoch nicht, Lebenswege und Karrieren vollständig zu rekonstruieren sowie viele nur flüchtig erwähnte, aber interessante Sujets im Detail zu beschreiben. Als Beispiele seien Konflikte zwischen ehemaligen Kampfkameraden hinter Stacheldraht (L. Kornilov versus E. Martynov, G. Jonson versus P. Bulgakov usw.) genannt, der Übertritt zu einer anderen Konfession, wie ihn etwa General Bäumelburg 1916 in Gefangenschaft vollzog, oder Beziehungen mit Gefangenen der Westmächte. Aus der ersten Annäherung an den Text ergibt sich die Frage nach dem gewählten chronologischen Rahmen. Außer Frage markiert das Jahr 1917 das Ende der Existenz der kaiserlich-russischen Armee, es spielt aber weder für den Status der kriegsgefangenen Generäle (die meisten wurden 1918 aus den Lagern entlassen) noch für die Analyse selbst, die bis in die spätere Zwischenkriegszeit hineinreicht, eine Rolle.
Die Autoren leisteten eine beachtliche Pionierarbeit, was die Recherche und Auswertung von den unzähligen Archivalien, Memoiren und Handbüchern angeht. Ihnen ist es gelungen, die in der Fachliteratur vorhandenen Ungenauigkeiten zu klären, die insbesondere mit der unkorrekten Übersetzung von russischen Namen sowie der Lückenhaftigkeit der Statistik zusammenhingen. Die Autoren kommen zu dem bemerkenswerten Schluss, dass die russische Armeeführung, die auf die massenhaften Verluste an kriegsgefangenen Generälen nicht vorbereitet war, enorm lang nach einem passenden Handlungsrahmen suchte – nach amtlichen Formulierungen, Rechtsnormen und Deutungsmustern, die der Gesellschaft die neue Erfahrung vermitteln und erklären sollten. Dies führte zur Verschleierung von Fakten, Zahlen, Namen und Umständen. Bemerkenswert ist daher der Versuch der Autoren, wichtige Zusammenhänge gerade aus der Statistik zu erklären.
Doch in der ausschließlich positivistischen Beschreibung sind die neuesten methodologischen Zugänge außer Acht geblieben, die sich mit der Textanalyse, der Gedächtniskultur und der akteursbezogenen Perspektive beschäftigen. Dies führt leider zu einer unkritischen Wahrnehmung von Memoiren, die im russischen Exil publiziert wurden und von Rechtfertigungsnarrativen geprägt waren (S. 30, 49 usw.). Ihre Schwarz-Weiß-Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes in den Kategorien des (fehlenden) Heldentums verführt die Autoren zu einer selektiven Zitierung der Fachliteratur. Bei der Beschreibung der negativen Seiten des deutschen Lagersystems werden insbesondere die schon breit bekannten Fakten von der privilegierten Lage der Offiziere, insbesondere der Generäle, im Vergleich zu den Soldaten außer Acht gelassen. Den Leser dieses sich als wissenschaftliche Analyse präsentierenden Buches wundert zudem die sehr auffällige Selbstidentifizierung der Autoren mit dem Untersuchungsgegenstand. So reden die Autoren ständig von „unserem Heer“, „unserer Landwehr“ sowie sogar von „unseren Gegnern“ und benutzen ohne Reflexion und Erklärung den Quellenbegriff „Germanen“ (germancy).
Abschließend ist jedoch festzustellen, dass trotz aller methodischen Schwächen und des patriotischen Pathos der Semantik das vorliegende Material zweifellos sehr hohes Erkenntnispotential beinhaltet. Um es nutzbar zu machen, bräuchte man eine breitere analytische Kontextualisierung der Kriegsgefangenschaft als eines der Phänomene, das die „Urkatastrophe des Jahrhunderts“ in der Erinnerung mit ausgemacht hat.
Zitierweise: Oksana Nagornaja über: Fedor A. Guščin, Sergej S. Žebrovskij: Plennye generaly Rossijskoj imperatorskoj armii 1914–1917. [Generäle der kaiserlichen russländischen Armee in Kriegsgefangenschaft 1914–1917.] Moskva: Russkij put’, 2010. 383 S., 16 Abb. ISBN: 978-5-85887-364-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nagornaja_Guscin_Zebrovskij_Plennye_generaly.html (Datum des Seitenbesuchs)
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