Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Reinhard Nachtigal
Karl Freiherr von Bothmer: Moskauer Tagebuch 1918. Hrsg. von Gernot Böhme, bearb. von Winfried Baumgart. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2010. 137 S., 3 Ktn., 5 Abb. ISBN: 978-3-506-76519-2.
Das Tagebuch des Freiherrn von Bothmer ist 1922 erstmals in überarbeiteter Fassung unter dem Titel „Mit Graf Mirbach in Moskau“ erschienen, und zwar als eindringliche Warnung vor dem Bolschewismus, wie der Herausgeber G. Böhme hervorhebt. Der preußische Stabsoffizier und Generalstabsangehörige (Abteilung Feldeisenbahnwesen) wurde im April 1918 dem neuernannten deutschen Botschafter als Militärattaché zugeteilt und befand sich von Ende April bis Anfang August 1918 in Moskau. Der Bearbeiter W. Baumgart, der das Originalmanuskript und die einschlägigen Archivalien dazu für seine Dissertation von 1966 ausgewertet hatte, regte die Herausgabe des Originaltagebuchs an, weil es, anders als die Publikation von 1922, eine bedeutende historische Quelle darstellt. Das heißt, die wichtigen Ereignisse kennt man aus der älteren Publikation. In der quellenkritischen Ausgabe des Originals scheinen dagegen von Bothmers persönliche Ansichten durch. Allgemein und kulturgeschichtlich (orthodoxe Kirchen, russisches Ballet!) ist interessant, wie ein Mitteleuropäer Russland im Umbruch, während der blutigen Konsolidierung der Bol’ševiki, erlebte. Daneben gibt es aufschlussreiche Detailinformationen, etwa über die Verhandlungen der „Gemischten Kommission“ zur Repatriierung der beiderseitigen Kriegsgefangenen („Kopf um Kopf“), über die Rückführungsmissionen, über den Aufstand von Jaroslavl’, in den deutsche Heimkehrer hineingezogen wurden, über die Kontakte zu Polen, von deren großpolnischen Ambitionen auf deutsche Kosten von Bothmer hörte, über die dürftige Aktivität türkischer Diplomaten und über die Abwesenheit der österreichisch-ungarischen Politik.
Das Tagebuch sollte zusammen mit Aufzeichnungen anderer Zeitgenossen gelesen werden, so etwa von Kurt Riezler, Alfons Paquet und sogar von Mirbachs Nachfolger Karl Helfferich. Baumgarts Studie zur deutschen Ostpolitik im Jahre 1918 bildet den allgemeinen wissenschaftlichen Hintergrund.
Von Bothmer trat als Konservativer und Militär frühzeitig für ein deutsches Abrücken von den Bol’ševiki ein, was sich nach dem Zarenmord noch verstärkte, den er als Gipfel der Niedertracht empfand (S. 94–95). Aus seiner Perspektive auf die Moskauer Verhältnisse konnte er die Entscheidung der deutschen Außenpolitik nicht fassen, die einzige friedensgeneigte, nun herrschende Partei offiziell zu stützen. Stattdessen empfahl er eine Verbindung mit den „kommenden Leuten“ in Russland: der politischen Rechten und den Monarchisten. Dass diese für die eigene Sache nichts tun wollten und auf Deutschlands Initiative warteten, erkannte er missbilligend (S. 59: „Wir können nichts machen […]. Als Lohn müßt Ihr dann uns noch für unsere gewaltigen Leistungen das Baltikum und die Ukraine zurückgeben, da ihr nur dann einen starken und ehrlichen Freund in uns haben werdet“; auch S. 69ff, 86, 93); er sah aber keine Alternative. Die schwierige Situation des Auswärtigen Amts, das den völkerrechtlichen Standpunkt vertrat, konnte und wollte er nicht verstehen, und so avancierte Ministerialrat Johannes Kriege von der Rechtsabteilung für ihn zum Inbegriff einer verzopften Behörde, deren Nachwuchs er einer strengen Auswahl unterworfen sehen wollte (S. 22, 68, 104, 107ff.). Von Bothmer verstand nur klare Verhältnisse, die er auch von der deutschen Außenpolitik zu einem Zeitpunkt erwartete, an dem völlig unentschieden war, wie der Lauf der Geschichte gehen würde. Von großrussischen Patrioten, mit denen er in Kontakt kam, übernahm er die Ansicht, dass „viele abgesprengte Kinder [die Ukraine] […] wieder nach der Hand von ‚Mütterchen Rußland‘ greifen [werden]“ (S. 54). Damit gehört er zu den deutschen Zeitzeugen, die für ein konstruktives Zusammengehen mit einem bürgerlich-parlamentarischen Nachkriegsrussland standen. Von ukrainischen Ideen oder Randstaatenlösungen blieb er unberührt (S. 100–101). Dass er mit solchen Anschauungen gerade auch im deutschen Militär nicht allein stand, unterstreicht die Unentschlossenheit und Zwiespältigkeit der deutschen Politik des Jahres 1918, der ja weitreichende Eroberungs- und Kolonisationspläne im Osten unterstellt werden. Obwohl er Ludendorffs Plänen nicht fremd gegenüberstand, bietet seine Sicht eine ganz andere Perspektive, als es Geschichtsbücher lehren.
Bei von Bothmer scheint in Bezug auf Mirbach gleich nach dessen Ermordung der Verdacht durch, dass die Tscheka die Urheberin des Attentats gewesen sei; schon von Bothmer konnte die wirklichen Mörder benennen (S. 74ff.). Beide politischen Morde – das Attentat auf den deutschen Befehlshaber in der Ukraine Hermann von Eichhorn erwähnt er hier nicht – wie auch überhaupt Terror und Rechtlosigkeit der Bol’ševiki verabscheute der stockpreußische Militär aus ethischen Gründen zutiefst. Sie veranlassten ihn zu einer eindeutigen Haltung. Den Krieg erlebte er allerdings insgesamt eher als etwas „Nettes“, fern der Front Stattfindendes: Nur im gediegenen Verkehr mit Seinesgleichen wurde er gelegentlich mit anderen Anschauungen konfrontiert. Es ist sehr gut, sich in der Diskussion zu Oberost und den deutschen Kriegszielen im Osten diese ungewöhnliche, möglicherweise gar nicht so abseitige Perspektive zu vergegenwärtigen, wozu dieses Buch einlädt.
Reinhard Nachtigal, Freiburg i. Br.
Zitierweise: Reinhard Nachtigal über: Karl Freiherr von Bothmer: Moskauer Tagebuch 1918. Hrsg. von Gernot Böhme, bearb. von Winfried Baumgart. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2010. 137 S., 3 Ktn., 5 Abb. ISBN: 978-3-506-76519-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nachtigal_Bothmer_Moskauer_Tagebuch.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Reinhard Nachtigal. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.