Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martin Munke

 

Andrej Angrick / Peter Klein: The “Final Solution” in Riga. Exploitation and Annihilation, 1941‒1944. Transl. from the German by Ray Brandon. New York, Oxford: Berghahn, 2009. XI, 517 S., 14 Abb., 2 Ktn. = Studies on War and Genocide, 14. ISBN: 978-1-84545-608-5.

In den letzten Jahren wurde eine Reihe von Untersuchungen veröffentlicht, die sich in regionaler Perspektive mit der Vernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland befassten. Einen vielbeachteten Beitrag stellte die Betrachtung der „Endlösung“ in Riga durch Andrej Angrick und Peter Klein dar, die in der Reihe der Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart erstmals 2006 publiziert wurde (siehe dazu die Rezension von Uwe Liszkowski in JGO 57 (2009), H. 3, S. 455f). Das zugrundeliegende Forschungsprojekt wurde ursprünglich durch die in New York ansässige „Society of Survivors of the Riga Ghetto“ angeregt, weswegen eine baldige Übersetzung ins Englische zu erwarten war. Diese liegt nun vor und wurde in die von Omar Bartov und A. Dirk Moses herausgegebene Reihe „Studies on War and Genocide“ aufgenommen. Neben mehreren Originalbeiträgen der angelsächsischen Wissenschaft hat die Reihe bereits zahlreiche weitere einschlägige Untersuchungen der deutschen Holocaust-Forschung einem internationalen Publikum zugänglich gemacht, etwa den von Ulrich Herbert verantworteten Band „National Socialist Extermination Policies“ (Bd. 2, deutsche Originalfassung 1998) oder Hannes Heers und Klaus Naumanns „War of Extermination“ (Bd. 3, dt. Originalfassung 1995).

Die Untersuchung von Angrick und Klein – beide durch zahlreiche Arbeiten ausgewiesene Kenner nationalsozialistischer Besatzungspolitik – widmet sich in 21 Kapiteln und zwei Exkursen der deutschen Besatzungsherrschaft in Riga und Umgebung zwischen 1941 und 1944 unter besonderer Berücksichtigung des grausamen Schicksals der jüdischen Bevölkerung: Von den lettischen Juden überlebten nur etwa 1.000 (ca. 1,25 Prozent), von den deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden nur etwa 1.100 (ca. 3,5 Prozent) jene Jahre. Die Arbeit stützt sich auf ein umfangreiches Gerüst aus Archivalien, gedruckten Quellen, Erinnerungs- und wissenschaftlicher Literatur. Einheimische lettische Forschungsergebnisse werden nur in wenigen Fällen rezipiert, für die deutschsprachige Forschung jedoch dürften nahezu alle relevanten Beiträge und Quellen – auch aus osteuropäischen Archiven – herangezogen worden sein. Drei Aspekte der Studie sind besonders herauszustellen.

Obwohl sie sich in weiten Teilen auf die archivalische Überlieferung der Täterseite beziehen, gelingt es den Autoren erstens, die Perspektive der Opfer in eindringlicher Art und Weise zum Leben zu erwecken. Das Ringen um Worte zur Schilderung des eigentlich Unfassbaren ist mehrfach zu spüren, etwa in der Darstellung der Vergasungen im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, wohin ein Teil der in Riga verbliebenen Juden angesichts des Vorrückens der Roten Armee Mitte 1944 verbracht wurde. Immer wieder werden zudem Memoiren und Zeugenaussagen von Überlebenden herangezogen, die das abstrakte Bedrohungsgefühl eines Lebens im Ghetto durch konkrete Beispiele zu veranschaulichen helfen. So schilderte beispielsweise der Überlebende Kurt Mendel die Selektion von „Arbeitsunfähigen“ im behelfsmäßigen Lager Jungfernhof, bei der sein an der Ruhr erkrankter Vater Andreas vom Lagerkommandanten Rudolf Seck vor seinen Augen erschossen wurde.

Zweitens verharren Angrick und Klein nicht auf der regionalen und lokalen Ebene, sondern unternehmen vielfach eine Einbindung ihrer Forschungsergebnisse in übergeordnete Zusammenhänge. Beispielhaft dafür sind der Exkurs über die Wannsee-Konferenz und die Betrachtung von Himmlers Agieren zur Durchsetzung seines „Umsiedlungsbefehls“ vom April 1942. Die konkreten Auswirkungen von Anordnungen der Reichs­ebene werden auf erschreckende Weise sichtbar, wenn Ende 1941 über 25.000 lettische Juden erschossen werden, um im Rigaer Ghetto Platz für die angekündigte Ankunft deportierter deutscher Juden zu schaffen. Auch im zeitlichen Rahmen beschränkt sich die Studie nicht auf die Besatzungsherrschaft. Der eigentlichen Untersuchung vorangestellt ist ein Kapitel zur Stellung des lettischen Staates in der Zwischenkriegszeit und ein weiteres zur generellen Vorbereitung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Ein abschließendes Kapitel befasst sich mit der strafrechtlichen Verfolgung der „Täter von Riga“ im Nachkriegsdeutschland und zeigt deutlich auf, wie nur ein Bruchteil von ihnen belangt werden konnte.

Den Autoren gelingt es drittens, die Auswirkungen der viel beschriebenen „Ämterrivalität“ des „Dritten Reiches“ am regionalen Beispiel anschaulich darzustellen. Die Auseinandersetzungen zwischen SS und RSHA, Gebiets- und Reichskommissariat sowie Wehrmacht in Bezug auf den Umgang mit der einheimischen und deportierten jüdischen Bevölkerung zeigen plastisch die einander häufig entgegenstehenden Interessen der verschiedenen Dienststellen. Diese Gegensätze konkretisierten sich in Riga in Streitigkeiten um die Ghettoverwaltung und den Arbeitseinsatz der Juden. Mit der schrittweisen Auflösung des Ghettos und der Einrichtung des Konzentrationslagers Riga-Kaiserwald und verschiedener Betriebslager ab Mitte 1943 setzte sich die Position der SS hier schluss­endlich durch. Allen vielfach artikulierten Produktionszwängen und Rüstungsinteressen zum Trotz erscheint der ideologisch begründete Wille zur Vernichtung der Juden als letztlich ausschlaggebend, wie auch die Autoren bereits für Ende 1942 resümieren: „In the tension between economic exploitation and the ideologically driven process of annihilation, ,weltanschauung‘ had long since gained the upper hand“ (S. 346). Neben diese intentionalistische Argumentation, zu deren Untermauerung sich etwa die von Friedrich Jeckeln geleiteten Massenmordaktionen von Rumbula und Biķernieki heranziehen lassen, tritt auch eine strukturalistische, wenn Angrick und Klein anhand der zahlreichen Mordtaten von Sicherheitspolizei- und Sicherheitsdienst-Angehörigen wie des Polizeiwachtmeisters Otto Tuchel im Ghetto die zunehmende individuelle Radikalisierung aufzeigen.

Im Vergleich zur deutschen hat die sprachlich gelungene englische Fassung einige sinnvolle Ergänzungen und Korrekturen erfahren. Ein knappes Vorwort von Bernd W. Haase, Vertreter der „Society of Survivors of the Riga Ghetto“, zu dem von einigen Schwierigkeiten begleiteten Forschungsprojekt eröffnet den Band. Die Zahl der Abbildungen wurde von 11 auf 16 erhöht. Neu hinzugekommen sind eine Übersichtskarte über den baltischen Raum in der Besatzungszeit sowie mehrere zeitgenössische Skizzen mit Ansichten aus dem Lager- und Ghettoleben. Als sehr hilfreich erweist sich eine Grafik über das Beziehungsgeflecht der SS-/Polizei- und Zivilverwaltung in Riga, welche die einzelnen Dienststellen aufführt. Die Orientierung unter den zahlreichen Protagonisten der „Endlösung“ wird zudem durch einen sechsseitigen biographischen Anhang erleichtert; weiterhin wurden ein Glossar mit wichtigen administrativen Begriffen und eine Rangtabelle beigefügt. Statt Fuß- werden Endnoten verwendet, was aufgrund der Fülle der Nachweise einer optischen Überfrachtung des Textes entgegenwirkt. Amtsbezeichnungen werden häufiger auch ausgeschrieben verwendet, die Lesbarkeit für den Nicht­spezialisten wird so erhöht. Hervorzuheben ist unter den Ergänzungen aber vor allem die Ausweitung der Register auf den Anmerkungsapparat, womit eine Anregung der Besprechungen der deutschen Fassung aufgegriffen und die Handhabbarkeit des umfänglichen Bandes bedeutend verbessert wurde. Auf den Einbezug neuerer Literatur, also eine tiefergehende Überarbeitung des Textes, wurde allerdings verzichtet.

Dafür wurde die Übersetzung genutzt, um kleinere Fehler zu beseitigen. So heißt es nun beispielsweise richtig „Sachsenhausen“ (S. 447) statt wie zuvor „Sachenhausen“. Der in der deutschen Fassung im Literaturverzeichnis fehlende Titel von Dietmut Majer wurde nun aufgenommen (S. 496), um nur zwei Beispiele zu nennen. Jedoch wurden nicht alle Ungenauigkeiten korrigiert – Georg von Rauch firmiert weiterhin als „Gregor“ (S. 499) –, stellenweise kamen sogar neue hinzu: aus Andreas Hillgruber etwa wurde „Hillgrüber“ (S. 494). Die Orientierung im Literaturverzeichnis wird auch etwas erschwert durch die den amerikanischen Gepflogenheiten geschuldete Entscheidung, Sammelbände unter ihrem Titel alphabetisch einzuordnen (Artikel werden dabei ignoriert) und nicht unter dem Namen des Herausgebers. Allerdings wird dieses Prinzip bisweilen durchbrochen, wenn etwa der von Gerd R. Ueberschär und Lev A. Bezymenskij herausgegebene Band „Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941“ eben nicht unter „D“ eingeordnet, sondern doch unter „U“ geführt wird (S. 501).

In der Gesamtschau handelt es sich bei solchen Unzulänglichkeiten jedoch nur um Marginalien. Nur an wenigen Stellen bleiben inhaltliche Wünsche offen. So hätte etwa eine differenziertere Bewertung der lettischen Kollaboration erfolgen können, wie sie zuletzt durch lettische Historiker unternommen wurde. Die entsprechenden Passagen konzentrieren sich hauptsächlich auf das Kommando um Viktors Arājs und gehen sonst kaum über pauschalisierende Aussagen hinaus. Die oben geschilderten positiven Aspekte überwiegen jedoch bei weitem, so dass die durch die Übersetzung zu erwartende weitere Verbreitung des Werkes von Angrick und Klein nur zu begrüßen ist. Die vorhandene Literatur zum Thema – etwa Gertrud Schneiders „Journey into Terror. Story of the Riga Ghetto“ (2001) – wird sinnvoll ergänzt und vereinzelt korrigiert, zahlreiche Anstöße für weitergehende Forschungsvorhaben werden gegeben.

Martin Munke, Chemnitz

Zitierweise: Martin Munke über: Andrej Angrick / Peter Klein: The “Final Solution” in Riga. Exploitation and Annihilation, 1941‒1944. Transl. from the German by Ray Brandon. New York, Oxford: Berghahn, 2009. XI, 517 S., 14 Abb., 2 Ktn. = Studies on War and Genocide, 14. ISBN: 978-1-84545-608-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Munke_Angrick_Klein_Final_Solution_in_Riga.html (Datum des Seitenbesuchs)

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