Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Susanne Spahn: Staatliche Unabhängigkeit – das Ende der ostslawischen Gemeinschaft? Die Außenpolitik Russlands gegenüber der Ukraine und Belarus seit 1991. Hamburg: Kovač, 2011. 447 S. = Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 19. ISBN: 978-3-8300-5704-8.

Die auf publizierten Quellen, Interviews und Forschungsliteratur basierende Dissertation ist in einen historischen und einen zeitgeschichtlich-politischen Teil gegliedert. Das erste Kapitel stellt die Idee der „ostslawischen Gemeinschaft“ von „Großrussen, Kleinrussen, und Weißrussen“ dar, wie sie orthodoxe Mönche im 17. Jahrhundert zur Legitimierung des Moskauer Herrschaftsanspruches auf die Ukraine formulierten. Die von Historiographie und Herrschertitulatur aufgegriffene Vorstellung der „dreiteiligen russischen Nation“ trug dazu bei, unter Russen das Bild der Ukrainer als eines „pittoresken“ (S. 25), aber unselbständigen und rückständigen Zweiges des eigenen Volkes zu verbreiten und deren im 19. Jahrhundert erwachende Nationalbewegung als ausländische Intrige zu verurteilen. Dementsprechend geringschätzig bis aggressiv fiel die Reaktion vieler Russen auf die Unabhängigkeit der Ukraine und Belarus 1918 und 1991 aus. Selbst heute spricht die Mehrheit der Bevölkerung Russlands in Umfragen den beiden Nachbarvölkern den Rang einer Nation ab, und der langjährige Botschafter Moskaus in Kiev, Viktor Černomyrdin, gab zu, oft gefragt zu werden, ob „wir irgendwann die Ukraine zurückholen“ (S. 126), was von Moskauer Politikern in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts offen gefordert wurde. Präsident Putin wird mit den Worten zitiert: „Ukraine – das ist nicht einmal ein Staat!“ (S. 324). Angesichts derartiger Vereinnahmung zielten ukrainische Nationaldefinitionen u.a. auf die Abgrenzung gegenüber Russland. Dieser Prozess begann früher als in Belarus und verankerte sich tiefer im Bewusstsein. Von Russland werden die seit 1991 wieder unabhängigen Staaten zwar offiziell anerkannt, aber als vorübergehende Phänomene betrachtet (S. 82); die in Kapitel drei analysierten außenpolitischen Konzeptionen des Kreml’ definieren sie als „nahes Ausland“ oder „lebenswichtige [!] Interessenssphäre“, was der Mehrheitsmeinung in Russland entspricht. Dabei gilt das „Interesse“ Russlands nicht den Staaten oder ihrer nichtrussischen Mehrheitsbevölkerung; vielmehr soll die Reintegration der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Russland den Weg zum geforderten Großmachtstatus ebnen. Die Militärdoktrin Russlands von 1993 drohte mit der Anwendung von Gewalt zur „Verteidigung lebenswichtiger Interessen der Russländischen Föderation“ im gesamten GUS-Raum (S. 75). Noch 2005 reklamierte der Präsidentenberater Gleb Pavlovskij eine „Verpflichtung Russlands“, die angrenzenden Staaten zu kontrollieren (S. 316). Da jede derartige „Einflusssphäre“ den Rechten souveräner Staaten und der UN-Charta widerspricht, waren Konflikte hier „vorprogrammiert“.

Der zeithistorisch-politische Abschnitt beginnt mit einer Darstellung der Versuche Russlands, die GUS-Staaten durch multilaterale Zusammenschlüsse wieder an sich zu binden und der Hegemonie zu unterwerfen (Kapitel 4). Aufgrund des Widerstandes einiger Staaten, des Schwankens der russländischen Führung zwischen machtpolitischen und wirtschaftlichen Aspirationen sowie des (trotz rabiater Anti-NATO-Propaganda) offenkundigen Fehlens einer äußeren Bedrohung waren diese Bemühungen jedoch nicht immer erfolgreich bzw. sie konnten nur mit wirtschaftlichem und politischem Druck durchgesetzt werden. Um 1998/2000 zog der Kreml’ die Konsequenz aus der trotz indirekter Subventionen durch Russland schleppenden GUS-Integration und setzte auf selektive Einbindungsvehikel sowie bilaterale wirtschaftliche Durchdringung. Nach einem Vergleich der unterschiedlichen innenpolitischen Machtverhältnisse in Belarus und der Ukraine folgen ausführliche Analysen der russländischen Politik gegenüber beiden Staaten (Kapitel 6–7) und deren Reaktion: Während der seit 1994 in Belarus autoritär regierende und außenpolitisch weitgehend isolierte Präsident Lukašenka mit intensiver Rhetorik über eine Vereinigung mit Russland politischen Rückhalt suchte, verweigerte die auch wirtschaftlich eigenständigere Ukraine die Abtretung von Souveränitätsrechten, nahm weder am Vertrag über Kollektive Sicherheit oder an der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft teil und setzte notgedrungen ihre durch die Nähe zu Russland und das Interesse am Westen diktierte Schaukelpolitik fort. Auch der in Reaktion auf deren Annäherung an die EU eigens zur Anbindung der Ukraine eingerichtete Einheitliche Wirtschaftsraum der GUS kam infolge von Debatten, ob man zuerst eine Freihandelszone errichten solle, wie Kiev wünschte, oder eine Zollunion mit supranationalen Kompetenzen, wie Moskau forderte, nicht voran. Dennoch hat der Kreml seine Hegemonieansprüche nicht begraben (S. 390) und der mit politischem Druck, Energieabhängigkeit, Propaganda, Geheimdienstaktivitäten und internationalen Zusammenschlüssen geführte Kampf um die Ukraine dauert an.

Die faktenreiche, großteils kritisch argumentierende Arbeit stellt eine wertvolle Analyse dieses Problems gesamteuropäischer Tragweite dar. Ausgeklammert wurden die Rolle der Separatismusbewegung auf der Krim und der „Friedenseinsätze“ Russlands (z. B. Moldau/Transnistrien) als Druckmittel. Manche Behauptung könnte schärfer hinterfragt werden, so etwa ob die Führer Russlands die Aufnahme neuer Mitglieder in die NATO tatsächlich als „Einkreisung […] aufgefasst“ haben (S. 306) oder aber wider besseres Wissen lediglich so darstellen, um ein Bedrohungsszenario zu suggerieren, ihre Nachbarstaaten vom Beitritt abzuschrecken und die eigene Aufrüstung zu legitimieren. Dass die „ostslawische Gemeinschaft“ heute wie zur Zeit ihrer Erfindung primär ein Propagandavehikel zur Untermauerung von Machtansprüchen ist, wird klar.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Susanne Spahn: Staatliche Unabhängigkeit – das Ende der ostslawischen Gemeinschaft? Die Außenpolitik Russlands gegenüber der Ukraine und Belarus seit 1991. Hamburg: Kovač, 2011. 447 S. = Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 19. ISBN: 978-3-8300-5704-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Spahn_Staatliche_Unabhaengigkeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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