Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Wolfgang Mueller
György Dalos: Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. Hrsg. von Christian Beetz und Olivier Mille. München: Beck 2011. 174 S., 65 Abb. = beck’sche reihe, 1996. ISBN: 978-3-406-62178-9.
George Lawson / Chris Armbruster / Michael Cox (eds.): The Global 1989. Continuity and Change in World Politics. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2010. XIX, 317 S., 11 Taf., 4 Abb. ISBN: 978-0-521-76124-6.
Die Literatur über die friedlichen Revolutionen von 1989 und das Ende des Kalten Krieges ist kaum mehr überschaubar. Zahlreiche Staaten haben nicht zuletzt aus politischem Interesse ihre Akten vor Ablauf der üblichen Sperrfristen zugänglich gemacht, beteiligte Personen haben durch Erinnerungsbände zum relativ guten Wissensstand beigetragen.
Dalos, mit mehreren Publikationen als Experte ausgewiesen, hat als Begleitbuch zu einer mehrteiligen TV-Serie eine gelungene Übersichtsdarstellung verfasst, die kurz, dicht und unterhaltsam den ereignisgeschichtlichen Forschungsstand zusammenfasst. Dabei nimmt er vom „Real Existierenden Sozialismus“ der Jahre 1975 bis 1980 seinen Ausgang, vom bescheidenen Wohlstand der Osteuropäer, aber auch von der Unterdrückung der Dissidenten, von Korruption und Versteinerung der Regime und dem erlahmenden Wirtschaftswachstum. In sechs chronologischen Kapiteln zeichnet der Autor die Entwicklungen jeweils in der Sowjetunion und den nichtsowjetischen Warschauer-Pakt-Staaten von den „normalisierten“ Regimen und dem ungarischen Gulaschkommunismus über die wachsenden Finanzschwierigkeiten und die Perestrojka bis zum Zusammenbruch der KP-Herrschaft und zum Zerfall der UdSSR nach. Dabei weist Dalos auch auf bisher ungeklärte Fragen etwa in Bezug auf die Rolle Michail Gorbačëvs bei den sowjetischen Militärinterventionen und Massakern in Georgien und Litauen hin.
In der Darstellung, die auch für die nötige internationale Einbettung sorgt, werden wirtschafts- und sozialhistorische Hintergründe, aber auch die Handlungsmotive nur punktuell angedeutet. Kleinere Fehler werden in den Neuauflagen auszumerzen sein: Die Doppelte Nulllösung war ursprünglich keine sowjetische, sondern eine US-Forderung und bezog sich 1986 eindeutig auf Mittelstreckenraketen; der sowjetische Volkskongress hatte nicht 1500, sondern 2250 Deputierte.
Handelt es sich bei Dalos’ Buch um eine populäre Ereignisgeschichte, strebt der von Lawson, Armbruster und Cox edierte Sammelband danach, 1989 als globale Epochengrenze zu untersuchen. Obwohl nach Fukuyamas liberalem Optimismus über das „Ende der Geschichte“ inzwischen Mearsheimers skeptischer Realismus an Wirkmacht gewonnen hat, wird 1989, und hier vor allem die Entwicklung in Europa, heute oftmals als zentraler Ausgangspunkt für die Entwicklung der Weltpolitik gewählt, was, so Lawson in seiner luziden Einleitung, die Gefahr birgt, Kontinuitätslinien, aber auch abweichende Narrative zu überdecken. Die zentrale Gegenthese des überaus anregenden Bandes lautet somit: 1989 hat vieles geändert, aber bei weitem nicht alles; nicht alle Änderungen waren intendiert und schon gar nicht immer zum Besseren. Zwar haben alle Staaten des ehemaligen Sowjetimperiums mehr oder weniger kapitalistische Wirtschafts-, und viele auch demokratische Staatsformen etabliert. Weder sind aber mit dem Sowjetkommunismus alle undemokratischen Regime hinweggeschwemmt worden, noch hat der nunmehr unhinterfragte Kapitalismus eine Verringerung der Armut bewirkt. Auch die oft prognostizierten demokratisierenden Effekte des Kapitalismus sind vielerorts ausgeblieben. Die 13 Aufsätze des Sammelbandes werfen vor allem drei Frage auf: Wofür 1989 steht, was sich durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht geändert hat und welche alternativen Lesarten von 1989 möglich sind.
Unter den unmittelbaren europäischen Folgen untersuchen Laure Delcour und Michael Cox jene auf die ausgeweitete euroatlantische Allianz und die europäische Integration. Cox konstatiert eine infolge der Implosion des ehemaligen Hauptgegners beschleunigte Erosion des transatlantischen Grundkonsenses; die Verteidigung gegen den Terrorismus werde laut Umfragen in NATO-Staaten mehrheitlich nicht als legitimierender Ersatz für die Verteidigung gegen den Kommunismus akzeptiert. Solange sich aber die EU-Staaten in ihrer Verteidigung auf die USA verlassen und diese bereit sind, die Hauptlast zu tragen, wird, so könnte man anmerken, die NATO wohl weiterexistieren. Angesichts neuer globaler Herausforderungen ist fraglich, ob eine der beiden Seiten im 21. Jahrhundert auf ein durch weitgehend parallele Wertvorstellungen gefestigtes Bündnis verzichten kann. Die EU-Entscheidungskrise, die – trotz der Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon, der Integration der ehemaligen Volksdemokratien und der Einführung des Euro – in den Jugoslawienkriegen, der Renationalisierung innenpolitischer Legitimierungsdiskurse und der anhaltenden Spekulations- und Finanzkrise zutage trat, lässt dies zweifelhaft erscheinen.
Stärker noch als bei diesen Entwicklungen kamen beim nach 1989 augenfällig werdenden Siegeszug des Neoliberalismus schon seit den 1970er Jahren wirkende Trends zum Tragen, was das klassische Narrativ eines durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus seines Korrektivs beraubten Kapitalismus historisiert. Saskia Sassen analysiert drei Faktoren, die zu einer „Rückkehr zur primitiven Akkumulation“ geführt haben: die Deregulierung von Finanz- und Wirtschaftsaktivitäten samt Informalisierung von Arbeit in der Ersten Welt, begleitet von sinkenden Nettolöhnen und zunehmenden Prekariaten; zweitens der globale Nettokapitaltransfer aus der Dritten Welt in die Erste aufgrund vom IMF verordneter Schuldentilgungs- und Privatisierungsprogramme sowie Freihandelspolitik; und schließlich die Kapitalschwemme infolge von Niedrigsteuerpolitik samt Kreation hochriskanter Finanzinstrumente unter Missbrauch privater Hypotheken. Als Folgen des Glaubens an eine „Selbstkorrektur der Märkte“, der übersieht, dass auch Demokratie nicht ohne Checks and Balances funktioniert, nennt Sassen steigende Ungleichheit, Instabilität und Kriminalität. Eine politische Komponente dieser Entwicklung, die Überzeugungsschwäche der westlichen Linken nach 1989, illustriert William Outhwaite in seinem Kapitel „Was is left after 1989?“ anhand des Paradoxons, dass die ehemaligen Staatsparteien in Ostmitteleuropa den Übergang mit weniger Verlusten bewältigt haben als die westliche Sozialdemokratie.
Aber nicht nur reformkommunistische Parteien konnten überleben, sondern namentlich in Russland vermochten bedeutende Teile der Machtelite ihren Einfluss zu bewahren, wie Aviezer Tucker in seinem Aufsatz über Restauration und Konvergenz in Russland und China betont. Dies führt er auf totalitäre Strukturen in der Sowjetunion zurück, die das Entstehen einer Gegenelite nicht zugelassen hätten, weshalb der oftmals angewandte Vergleich zur Transition in Lateinamerika nicht greife. Eine Vergleichsstudie zu John Hobsons Kapitel, das für den westlichen außenpolitischen Diskurs nach 1989 eine Renaissance von Denkschulen des 19. Jahrhunderts diagnostiziert, hätte für Russland die Bewahrung von Kalten-Kriegs-Schemata in Verbindung mit neomachiavellistischen Ansätzen zutage gebracht. Kapitel über die Reaktion auf Krieg und Genozid auf dem Balkan und in Afrika (Chris Armbruster), die Konsequenzen von 1989 für den Nahen Osten (Richard Saull), die „Demokratisierung“ der Gewalt infolge asymmetrischer Bedrohungsmuster und rüstungstechnischer Neuerungen (Marc DeVore) sowie die Entwicklung der US-Außenpolitik (Barbara Falk) runden den Band ab. In seinen Schlussfolgerungen kehrt Arne Westad zur Differenzierung kurz- und langfristiger Entwicklungslinien zurück: Während 1989 das Ende des bereits seit 1985 abgeschwächten Kalten Krieges der Supermächte markiere, habe es ideologische Entwicklungen wie die Abkehr von Wirtschaftsplanungsideen und die ökonomischen Folgen des Zusammenbruchs von Bretton Woods lediglich zur vollen Ausprägung gebracht.
Wenn in diesem Band bei weitem nicht alle der in beeindruckender Fülle verknüpften Entwicklungsstränge in annähernd gleicher Tiefenschärfe analysiert werden können, bietet er doch eine der am meisten inspirierenden Sammlungen über die weltpolitische Bedeutung von 1989, aber auch dessen Einbettung in andere globale Trends.
Zitierweise: Wolfgang Mueller über: György Dalos: Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. Hrsg. von Christian Beetz und Olivier Mille. München: Beck 2011. 174 S., 65 Abb. = beck’sche reihe, 1996. ISBN: 978-3-406-62178-9.George Lawson / Chris Armbruster / Michael Cox (eds.): The Global 1989. Continuity and Change in World Politics. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2010. XIX, 317 S., 11 Taf., 4 Abb. ISBN: 978-0-521-76124-6., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_SR_1989_Kontinuitaeten_und_Brueche.html (Datum des Seitenbesuchs)
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