Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christoph Mick

 

William Jay Risch: The Ukrainian West. Culture and the Fate of Empire in Soviet Lviv. Cambridge, MA, London: Harvard University Press, 2011. XI, 360 S., Abb. ISBN: 978-0-674-05001-3.

Lemberg (Lviv) ist eine moderne ukrainische Großstadt mit einer sehr verwickelten Geschichte. Vor dem Krieg war Lemberg (Lwów) eine polnische Stadt, in denen Juden knapp ein Drittel und Ukrainer etwa ein Sechstel der Bevölkerung ausmachten. Zwischen 1939 und 1947 wurden 80 % der Einwohner entweder ermordet, deportiert, umgesiedelt oder sie mussten fliehen.

Heute kehren die Überlebenden und ihre Nachfahren als Touristen in die Stadt zurück. Polnische Besucher finden Lwów in der Architektur und ihrer Erinnerung, Kanadier und US-Amerikaner mit ukrainischen Wurzeln suchen nachgerade nach diesen, während Touristen aus Westeuropa, den USA und Israel der Geschichte der von den Nazis ermordeten Juden nachspüren. Aber kaum jemand interessiert sich für die sowjetische Vergangenheit der Stadt, vielleicht auch deswegen, weil sie allgegenwärtig ist. Verlassen die Besucher das Zentrum und geraten nach Novyj Lviv, wissen sie bald nicht mehr, ob sie in Novosibirsk, Almaty oder tatsächlich in der Westukraine sind. Sowjetische Trabantenstädte sehen einander zum Verwechseln ähnlich. Die Bürokratie atmet noch sowjetischen Geist, und auch in manchen Geschäften sehen die Verkäuferinnen die Besucher eher als Gegner denn als Kunden. Dagegen haben nur wenige sowjetische Monumente die Wende überlebt. Es ist leichter, Denkmäler zu stürzen als Gewohnheiten abzulegen.

Die sowjetische Vergangenheit lässt sich nicht einfach abschütteln. Schließlich war es der Sieg der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg, der aus Lemberg eine ukrainische Stadt machte. Während die österreichische Zeit inzwischen nostalgisch verklärt wird und sich die städtische Elite die polnische Vergangenheit langsam aneignet, wird die sowjetische Phase mehr oder weniger ausgeblendet. Auch die historische Forschung hat sich nur wenig mit diesem Abschnitt Lemberger Geschichte befasst. Eine Ausnahme ist Tarik Amars unveröffentlichte Doktorarbeit über die ersten Jahre der Sowjetisierung (The Making of Soviet Lviv, 1939–1953. Ph.D. Dissertation, Princeton University 2006). William J. Risch knüpft an dieser Studie an und untersucht die Geschichte des intellektuellen und kulturellen Lebens Lembergs zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Gegenwart. Das Buch ist Teil zweier Forschungstrends. Während nach der Öffnung der sowjetischen Archive zunächst das Studium des Stalinismus im Mittelpunkt stand, wenden sich die Spezialisten nun immer häufiger der Brežnev- und Chruščev-Zeit zu. Der zweite Forschungstrend ist Ergebnis des gewachsenen Interesses an den Übergangszonen und Grenzgebieten in Osteuropa, ein Interesse, das auch von der Öffentlichkeit geteilt wird, wie der Erfolg von Timothy D. Snyders Buch „Bloodlands“ zeigt.

Nach einem  Einführungskapitel über die Geschichte Lembergs beschäftigt sich Risch zunächst mit der Sowjetisierung der Stadt und zeigt, wie sich die neue Stadtbevölkerung zusammensetzte. Hier stützt sich das Buch vorwiegend auf Materialien aus dem Archiv des Gebiets Lemberg. Der Schwerpunkt der Studie liegt aber auf der Untersuchung des intellektuellen Milieus und des kulturellen Lebens der Stadt. Im Laufe von zehn Jahren hat Risch 140 Interviews geführt. Seine Gesprächspartner waren vorwiegend Angehörige der kulturellen und wissenschaftlichen Elite. Die Interviews geben faszinierende Einblicke in das intellektuelle Milieu, die aus Archivmaterialien allein nicht zu gewinnen sind. Risch zeigt, wie die geistige Elite der Stadt ihr Verhalten an die politische Großwetterlage anpasste. Die Intellektuellen testeten die Grenzen ihres Spielraums aus, bemühten sich aber, sie nicht zu überschreiten. Nach der Zerschlagung des nationalukrainischen Widerstands gab es im intellektuellen Milieu keinen aktiven Widerstand gegen die Sowjetisierung mehr, aber doch Resistenz und den Versuch, die Idee ukrainischer Eigenständigkeit zu bewahren und zu verbreiten. Das Buch zeigt, wie einige Intellektuelle, die sich zu weit vorwagten, schließlich zu Dissidenten wurden.

Die westukrainischen Intellektuellen grenzten sich einerseits von Moskau und Kyjiv ab, andererseits wurden sie aber auch stark von Entwicklungen und intellektuellen Diskursen in der Unions- und in der Republikhauptstadt beeinflusst. Ein Kapitel handelt von der Jugendkultur in der Stadt, und wie westliche Einflüsse, oft vermittelt über Polen, in die Stadt kamen. Neben der offiziellen sowjetischen Kultur gab es auch eine blühende und nonkonformistische Untergrundkultur, die vor allem die Jugend ansprach. Risch geht auf die Hippiebewegung, die Popularität von Rock und Pop und die Rolle ukrainischer Liedermacher ein, die gegen den wachsenden Einfluss russischer Musik ansangen.

Das kulturelle ukrainische Umfeld in Lemberg machte russische Zuwanderer zu Lokalpatrioten. In einem Abschnitt über den Fussballklub Karpaty Lviv berichtet Risch, dass Lemberger Russen und Ukrainer gemeinsam in Spielen gegen Moskauer Klubs ukrainische Parolen skandierten. Allerdings wurde Karpaty Lviv, anders als Risch behauptet, niemals sowjetischer Meister. Höhepunkt war der Gewinn des sowjetischen Fußballpokals im Jahre 1969. Aus Sicht der alten Gebiete der Sowjetunion waren Städte wie Lemberg, Vilnius, Tallinn und Riga Tore zum Westen. Wer ‚westliche‘ Kultur schnuppern wollte, kam von Leningrad, Moskau, Kyjiv oder anderen Städten in die neu erworbenen Gebiete.

Im Allgemeinen versucht Risch, die Aussagen in den Interviews mit Hilfe anderer Quellen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. In wenigen Fällen verlässt er sich ausschließlich auf die Erinnerungen seiner Interviewpartner und macht Aussagen, die sich nur schwer überprüfen lassen. Diese Kritik soll aber nicht die Bedeutung des Buches schmälern und den Wert der Interviews als Quelle in Frage stellen. Durch die Kombination von zeitgenössischen Publikationen, Archivdokumenten und Interviews gelingt es Risch, einen Einblick in die kulturellen und intellektuellen Milieus der Stadt zu geben. Risch hat mit diesem Buch eine wichtige und originelle Studie zum intellektuellen Klima in der Sowjetunion vorgelegt, die zeigt, dass alles nicht so uniform war, wie es sich die Sowjetologen während des Kalten Krieges vorgestellt hatten.

Christoph Mick, Coventry

Zitierweise: Christoph Mick über: William Jay Risch: The Ukrainian West. Culture and the Fate of Empire in Soviet Lviv. Cambridge, MA, London: Harvard University Press, 2011. XI, 360 S., Abb. ISBN: 978-0-674-05001-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mick_Risch_The_Ukrainian_West.html (Datum des Seitenbesuchs)

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