Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Stephan Merl
Galina F. Dobronoženko: Kulak kak ob”ekt social’noj politiki v 20-e – pervoj polovine 30-ch godov XX veka (na materialach Evropejskogo Severa Rossii). [Der „Kulak“ als Objekt der Gesellschaftspolitik in den zwanziger Jahren und in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre (auf der Grundlage von Materialien aus dem Norden des europäischen Russlands]. S.-Peterburg: Nauka, 2008. 729 S. ISBN: 978-5-02-025225-7.
Bereits 1966 warf Moshe Lewin die Frage auf, wer denn der sowjetische „Kulak“ gewesen sei. Die Antwort ist bis heute offen. Natürlich ist uns seit langem die Diskussion der zwanziger Jahre über „Kulaken“ vertraut. Wir wissen, welche Kriterien dazu herhalten sollten, in der Statistik, bei Wahlen und vor allem beim Steuereinzug „ausbeuterische“ Haushalte zu identifizieren. Seit der Öffnung der Archive kennen wir auch recht exakt die Zahl derjenigen, die als „Kulaken“ repressiert und vielfach deportiert wurden, und haben Kenntnis vom Mordbefehl 00447, mit dem 1937–1938 die Kulakenaktion zum Abschluss kam. All das verrät jedoch kaum etwas darüber, welche Haushalte konkret zu „Kulaken“ erklärt wurden. Offensichtlich belebte das Regime in den zwanziger Jahren erfolgreich das überkommene, geradezu mythische Feindbild „Kulak“. In ihrem eigenen Dorf vermochten die Bauern aber in der Regel keinen „Kulaken“ zu entdecken. Ohne die Repression von „Kulaken“ wäre es nicht möglich gewesen, die Bauern in die Kolchose zu zwingen.
Galina Dobronoženko von der Staatsuniversität in Syktyvkar und Mitarbeiterin der Filiale der Russischen Akademie der Wissenschaften in der Komi-Republik, beansprucht, die „erste“ (sic!) umfassende Studie über die Politik der Staatsmacht gegenüber der sozialen Gruppe der „Kulaken“ in einem großen chronologischen Rahmen vorzulegen. Dazu erschließt sie bisher nicht genutztes Archivmaterial des russischen Nordens und will bekannte Fakten konzeptionell neu einordnen (S. 40 f). Um die „terminologische Unbestimmtheit“ zu beseitigen, schlägt sie vor, für die Periode nach der Revolution von der traditionellen Gleichsetzung der „Kulaken“ mit dörflichen Ausbeutern abzurücken. Dies sei nichts anderes als ein Mythos gewesen, denn die Bolschewiki hätten nicht die realen „Kulaken“ im Blick gehabt, sondern diese nach ihren politischen Vorstellungen konstruiert, um potenzielle und reale Gegner ihrer Politik auf dem Lande zu beseitigen. Den Begriff „Entkulakisierung“ fasst sie als breiter auf und unterscheidet ihn deshalb von der „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ (S. 466 f).
Über „Kulaken“ gibt es bereits sehr viele Publikationen. Mit 729 Seiten ist die von Dobronoženko vorgelegte Monographie ohne Zweifel die längste Studie zu diesem Thema. Wie aber steht es mit dem wissenschaftlichen Ertrag? Welchen Grund könnte es geben, dieses Buch auch tatsächlich zu lesen? Im ersten Teil wird auf gut 300 Seiten lediglich längst Bekanntes über die „Kulaken“ in den zwanziger Jahren referiert. Das Weglassen dieses Teils wäre auch deshalb anzuraten gewesen, weil man dann der Verfasserin nicht hätte vorwerfen müssen, dass sie den massenhaften Wahlrechtsentzug für „Kulaken“ in der Kampagne von 1927 nicht behandelt, der von zentraler Bedeutung für ihr Thema ist. Sie führt zwar die Kriterien zur Bestimmung der „Kulaken“ im Wahlgesetz von Ende 1926 auf (S. 102–113), übergeht dann aber die erbitterte Auseinandersetzung um die Einstufung einzelner Haushalte, die den Betroffenen erstmals vor Augen führte, was es bedeutete, als „Kulak“ zu gelten.
Interessant wird die Studie, wenn Dobronoženko in den Teilen zwei bis vier (ab S. 313) allmählich dazu kommt, detailliert nachzuzeichnen, wie sich nach der ersten Welle der „Entkulakisierung“ zwischen Mitte 1930 und 1937 die Bestimmungen der Steuergesetze, welche Haushalte als „Kulaken“ der individuellen Besteuerung unterliegen sollten, veränderten. Diese hatten generell die teilweise oder vollständige Liquidation des Betriebes zur Folge, weil die geforderte Steuersumme die Einnahmen grotesk überschritt und nur aus Vermögenswerten zu bezahlen war. Im 4. Teil über die „Zerschmetterung der Reste der Kulakenschaft“ (S. 647–724) schildert sie den Übergang von der Liquidierung von „Kulaken“ zur Liquidierung von Einzelbauern. In den letzten Abschnitten, erstmals auf S. 520, zunehmend häufiger ab S. 603, stellt die Verfasserin auch anhand von Beispielen aus dem Russischen Norden konkret einzelne Haushalte vor, die dieses Schicksal traf. Die Opfer bis einschließlich der ersten Welle der „Entkulakisierung“ bleiben dagegen auch hier anonym.
Die auf nahezu 400 Seiten erörterte Frage, ob der Begriff „Kulak“ in der sowjetischen Gesetzgebung exakt definiert wurde, erscheint nicht wirklich fruchtbar. Dass die jährlichen Steuergesetze genau regelten, welche Haushalte als „Kulaken“ gelten sollten (S. 694), ist eigentlich nicht strittig, sehr wohl aber, ob die Kriterien wirklich „Ausbeutung“ erfassten und in der Praxis problemlos anzuwenden waren. Beides traf nicht zu, wie die Verfasserin selbst detailliert nachweist. In der Praxis bestand für die Sowjetmacht das Problem darin, dass klare Kriterien die Aufdeckung von Feinden begrenzten. Ab der zweiten Hälfte des Jahres 1929 wurden deshalb die Kennzeichen von „Ausbeutung“ ständig ausgeweitet und die Quoten aufgehoben. Betriebe waren individuell zu besteuern, auch wenn sie aktuell die genannten Kennzeichen gar nicht mehr aufwiesen. 1931 war die Möglichkeit, mit diesen Kriterien weitere „Kulaken“ aufzudecken, faktisch erschöpft. Nunmehr reichte aus, dass der Haushalt irgendwann einmal, und sei es vor der Revolution, „nichtwerktätige“ Einkommen erzielt oder sich Anordnungen der Sowjetmacht widersetzt hatte. Ab 1933 wurden Einzelbauern zu Klassenfeinden erklärt, weil sie ihre Verpflichtungen vor dem Staat nicht erfüllten, „Spekulation“ oder andere „Schädlingsarbeit“ betrieben oder aus dem Kolchos ausgeschlossen waren (S. 692–694).
Es hätte nahegelegen, in dieser Studie die Frage, wer denn der „Kulak“ des Russischen Nordens gewesen sei, in den Vordergrund zu rücken. Dass die Herausarbeitung des sozialen Profils dieser „Kulaken“ eine lohnende Aufgabe wäre, schimmert immer wieder durch, wenn Dobronoženko die lokalen Verhältnisse schildert. Relativer Wohlstand korrelierte hier vielleicht mit Handel und Handwerk, aber sicher nicht mit der Agrarproduktion. Um überhaupt „Kulaken“ aufzudecken, mussten die Grenzwerte des Einkommens deshalb deutlich niedriger als anderswo angesetzt werden (u. a. S. 217 f, 253, 397–401).
Es bleibt ein Forschungsdesiderat, in einer Lokalstudie zu klären, wie die Beziehungen zwischen den dörflichen Haushalten aussahen und welche Familien aus der Mitte der Bauern heraus zu „Kulaken“ erklärt wurden. Lediglich für die Zeit nach 1930 hebt Dobronoženko, bezogen auf den Russischen Norden, bedingt den Schleier, wer denn der „sowjetische Kulak“ gewesen ist. Sie belegt, was ohnehin nicht mehr strittig war, dass es der Sowjetmacht nicht wirklich um die Aufdeckung von „Ausbeutern“ ging. Das Feindbild „Kulak“ wurde benötigt, um die anderen Bauern der Sowjetmacht zu unterwerfen: Das erforderte immer neue „Kulaken“. Klare Kriterien waren für dieses politische Ziel bestenfalls störend.
Stephan Merl, Bielefeld
Zitierweise: Stephan Merl über: Galina F. Dobronoženko: Kulak kak ob’’ekt social’noj politiki v 20-e – pervoj polovine 30-ch godov XX veka (na materialach Evropejskogo Severa Rossii). [Der „Kulak“ als Objekt der Gesellschaftspolitik in den zwanziger Jahren und in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre (auf der Grundlage von Materialien aus dem Norden des europäischen Russlands]. S.-Peterburg: Nauka, 2008. 729 S. ISBN: 978-5-02-025225-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Merl_Dobronozenko_Kulak_kak_obekt.html (Datum des Seitenbesuchs)
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