Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Ljubov Žvanko: Biženstvo pervoji svitovoji vijny v Ukrajini. Dokumenty i materialy (19141918) rr.). [Flüchtlinge in der Ukraine während des Ersten Weltkriegs. Dokumente und Materialien (19141918).] Charkiv: CHNAMG, 2009 359 S. ISBN: 978-966-695-133-8.

Die schweren Niederlagen der zarischen Armeen im Ersten Weltkrieg hatten nicht nur erhebliche Geländeverluste und den Rückzug der Truppen aus den westlichen Gebieten zur Folge, sondern waren von Anbeginn an auch von Flüchtlingsströmen sowie Deportationen der sogenannten „inneren Feinde“ in die Tiefen des Russländischen Reiches begleitet. Es war ein neues Phänomen, von dessen Ausmaß die Verantwortlichen in Petrograd genauso überrascht wurden wie fast alle kriegführenden Staaten von der hohen Zahl zu versorgender Kriegsgefangener. Für Russland brachten die großen Flüchtlingsströme eine zusätzliche Belastung der bereits angespannten Versorgungslage und überstrapazierten Transportsysteme mit Auswirkungen, deren destabilisierende Brisanz bis nach Russisch-Turkestan hineinwirkte. Um so erstaunlicher ist es, dass dieser Aspekt des Krieges bisher kaum untersucht und dargestellt wurde. Auch nicht für die Ukraine, wo im März 1918 mehr als 1,4 Mio. Flüchtlinge gezählt wurden, wie die Verfasserin des vorliegenden Buches hervorhebt. Sie will daher mit ihrer Arbeit dieses in Vergessenheit geratene Kapitel der Geschichte der Ukraine im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal überhaupt und als ein „soziales Phänomen“ (S. 10) beleuchten. Es geht ihr dabei um die sozialökonomischen und juristisch-administrativen Aspekte des Massenphänomens vom Ausbruch des Krieges bis Dezember 1918, zum Fall des Skoropads’kyj-Staates, mit dem zugleich der Krieg zu Ende ging.

Der Charkiver Historikerin kommt zunächst das Verdienst zu, mit ihren Recherchen die wichtigsten Archive für das Thema erschlossen und ausgewertet und damit auch einen ersten Pfad für weitere Forschungen aufgezeigt zu haben. Sie nennt acht Archive, die von den zentralen Staatsarchiven in Kiev bis zu den regionalen zwischen Žytomyr, Charkiv und Odessa reichen.

Die von ihr dort eruierten Quellen bestehen zunächst aus Aktenmaterialien, Berichten, Sitzungsprotokollen etc. von Selbstverwaltungs­organen auf Gouvernement- und Kreisebene, die mit der Betreuung der Flüchtlinge beauftragt waren. Sie werden ergänzt durch Presseberichte und Veröffentlichungen von Verwaltungsorganen.  

Gegliedert ist der Band in zwei größere Teile. Der Einleitung folgt zunächst eine Analyse und Darstellung zum Stand der Forschung und der bisherigen historiographischen Behandlung des Flüchtlingsthemas, das in der Ukraine bislang – wenn überhaupt – nur auf regionaler Ebene Aufmerksamkeit gefunden hat. Dagegen verweist L. Žvanko zu Recht auf die beachtlichen Forschungsergebnisse, die etwa in Frankreich, Deutschland und Russland, aber auch in Polen oder Weißrussland zum Ersten Weltkrieg überhaupt und zum Flüchtlingsproblem im Besonderen vorliegen. Besser steht es dagegen mit der Untersuchung von Wohlfahrtsorganisationen und Hilfskomitees, zu denen grundlegende Arbeiten auch aus der Feder ukrainischer Historiker stammen. Insgesamt fehlt bisher aber eine Gesamtschau des Flücht­lings­problems in der Ukraine und dessen Untersuchung im Kontext der Kriegs- und Revolutionsereignisse. Im zweiten, umfassenderen Beitrag unternimmt die Verfasserin einen ersten Versuch, die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen der Flüchtlingspolitik und des praktischen Umgangs mit dem Problem im Russländischen Reich sowie nach den Revolutionen zu untersuchen und zu werten. Hier gelingt es ihr, einen Umriss der Dimension der sozialökonomischen und politischen Herausforderungen deutlich werden zu lassen, mit denen sowohl das Innenministerium des Zarenreiches, speziell dafür geschaffene staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen als auch die Behörden und Strukturen der Ukrainischen Zentralrada und des Hetman-Staates konfrontiert waren. Sie kommt dabei zu einer insgesamt positiven Einschätzung der tatsächlichen Leistungen, welche die jeweilige politische Formation seit der Zeit der Zentralrada – auch angesichts revolutionärer Instabilität, rückkehrender Soldaten, ausländischer Intervention und beschränkter ökonomischer Möglichkeiten – zu erbringen hatte. Gleichzeitig verschweigt die Historikerin nicht, dass ihre Analyse nur eine erste Annährung darstellen kann, die weitere vertiefte Recherchen erfordert. Die ersten Befunde ermutigen dazu.

Der größte Teil des Buches bietet einen Quellenkorpus von 250 Dokumenten und Texten zur Illustrierung der genannten Artikel. Aber nicht nur das: L. Žvanko hat sie offenkundig mit dem Ziel ausgesucht, damit auch vielversprechende, „prioritäre Richtungen […] der Forschung“ (S. 21) zu formulieren. Sie stellen keine Überraschung dar, denn mit der von ihr geforderten Klärung von Begriffen wie Flüchtling, Vertriebener usw., der Untersuchung der Grundlagen und Strukturen der staatlichen Maßnahmen, der Evakuierungsprozesse, der Rolle der örtlichen Behörden und gesellschaftlichen Organisationen, der Art der Unterstützungsleistungen sowie der Probleme und Besonderheiten der unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen sind entscheidende Aspekte des Themas skizziert. Andere, wie etwa die Auswirkungen der Flüchtlingsströme und ihres Erscheinungsbildes für die politische Stabilität des Zarenreiches, die Folgen für das Transport- und Kommunikationssystem unter Kriegsbedingungen etc., könnte man ebenfalls nennen. Schon die im vorliegenden Buch versammelten Texte sind in dieser Hinsicht aufschlussreich.

Im Anhang finden die Leser drei Kurzresümees auf Ukrainisch, Russisch und Englisch, ein Ortsregister und ein Verzeichnis der Dokumente. Ein Namensindex hätte den Anhang sehr sinnvoll ergänzt. Dessen ungeachtet stellt Žvankos Text- und Quellenwerk ein sehr nützliches und bisher vermisstes Hilfsmittel nicht nur zur Geschichte der Ukraine im Ersten Weltkrieg dar.

Rudolf A. Mark, Lüneburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Ljubov Žvanko: Biženstvo pervoji svitovoji vijny v Ukrajini. Dokumenty i materialy (1914–1918) rr.). [Fahnenflucht in der Ukraine während des Ersten Weltkriegs. Dokumente und Materialien (1914–1918).] Charkiv: CHNAMG, 2009 359 S. ISBN: 978-966-695-133-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Zvanko_Bizenstvo.html (Datum des Seitenbesuchs)

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