Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Rudolf A. Mark
Stanislav Kulchytskyi: Holodomor in Ukraine 1932‒1933 / Ukrainskij golodomor 1932‒1933 gg: Interpretation of Facts / Interpretacija faktov. Kyïv: Institute of Ukrainian history of National Academy of Science of Ukraine, 2008, 103 S. ISBN: 978-966-02-4726-0.
St. Kul’čyc’kyj zählt zu den Historikern, die sich um die Erforschung des Holodomor, der Hungerkatastrophe in der Ukraine der Stalinzeit, sehr verdient gemacht haben. Zu seinen zahlreichen Studien hat er nun ein Bändchen vorgelegt, das auf Englisch und Russisch das Thema ein weiteres Mal einem größeren Leserkreis näher bringen und für die Klassifizierung des Holodomor als Genozid werben soll.
Ausgangspunkt der Schrift ist die Beobachtung, dass inzwischen eine Fülle von Studien und Darstellungen erschienen sind, aber die Genozid-These von vielen Forschern und Bearbeitern zurückgewiesen wird. Vor allem scheint ihm die Neubewertung der Hungersnot durch Robert Conquest, der den Holodomor als erster untersucht hat und auf Grund jüngerer Forschungen nicht mehr von einer bewussten Inszenierung der Katastrophe durch Stalin spricht, den Anstoß zu neuerlicher Beschäftigung mit der Frage gegeben zu haben. Nicht weniger wichtig ist dem Kiever Historiker zudem die Auseinandersetzung mit den russländischen Kolleginnen und Kollegen, weil diese wie auch westliche Forscher etwa die Nahrungsmittelrequirierungen als für die Industrialisierung nötige Maßnahme beschönigten. Kulčyc’kyj fordert daher alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf, zusätzliche Argumente für seine Bewertung der Hungerkatastrophe zu liefern oder aber „convincing proofs of non-genocid nature of horrific difference in the death rate of population in Ukraine and Kuban, on one side, and by other districts of the USSR on the other” (S. 5).
Inzwischen bietet er mit der Broschüre seine Argumente und einige Dokumente an, welche die Genozid-These, die er für unwiderlegbar hält, bestätigen sollen. Kurzgefasst beruht sie auf dem Argument, dass bis Ende 1932zwar auch in anderen Regionen Menschen sterben mussten, weil ihnen das Brotgetreide entzogen wurde. In der Ukraine aber seien den Menschen seit November 1932 auch alle anderen Lebensmittel abgenommen worden, so dass dort 1932/33 mindestens 3,5 Mio. Menschen den Tod gefunden hätten.
Auch der Holocaust wird von Kulčyc’kyj als Argumentationshilfe herangezogen. Genozid könne das Ergebnis ethnischer Säuberungen sein wie etwa im Fall der Lebensraum-Politik der Nazi-Führung oder aber aus Terrormaßnahmen als Strafe resultieren. Und dies sei sowjetische Praxis gerade in der Ukraine gewesen. Allerdings auch schon 1921, womit der Zusammenhang mit dem ukrainischen nation-building hergestellt wird. Stalin brauchte demzufolge nicht nur Investitionsmittel für sein Industrialisierungsprogramm, er wollte auch die nationale Republik, die ukrainischen Bürger vernichten: „Ukrainian citizens, even in a strait jacket of the soviet republic were dangerous for Kremlin leaders just by their existence“ (S. 23), wie Kul’čyc’kyj hervorhebt. Aus den dem Text angehängten Dokumenten lässt sich diese Behauptung aber nicht ableiten. Sie belegen lediglich, dass Getreide und Nahrungsmittel brutal konfisziert wurden, auch die ärmste Hütte nicht verschont blieb.
Die Absicht, die mit der Publikation der vorliegenden Schrift verfolgt wird, ist klar. Geschichtsschreibung hat immer eine politische Dimension. Dessen ungeachtet bleibt daneben der Hungertod von Millionen Menschen, der nach Erklärungen verlangt. Historikerinnen und Historiker haben danach gesucht und suchen weiter. Kul’čyc’kyj gehört dazu, nicht zuletzt auch deshalb, weil er wesentliche Aspekte der Katastrophe früh erfasst und identifiziert hat. Seine Interpretationen und Schlussfolgerungen sind aber weder neu noch in jedem Fall überzeugend. Außerdem lässt der englische Text sprachlich zu wünschen übrig. Nützlich ist dagegen ein Verzeichnis aller Publikationen des Autors zum Thema.
Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Stanislav Kulchytskyi: Holodomor in Ukraine 1932-1933: Interpretation of Facts. Kyiv: Institute of Ukrainian history of National Academy of Science of Ukraine, 2008, 103 S. ISBN: 978-966-02-4726-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Kulchytskyi_Holodomor.html (Datum des Seitenbesuchs)
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