Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Eva Maeder
Belarus’ i vojna 1812 goda. Sbornik dokumentov. [Weißrussland und der Krieg von 1812. Quellensammlung.] Sost. A. M. Lukaševič / D. L. Jackevič. Red. koll. V. I. Adamuško (gl. red.) i dr. Minsk: Belarus’, 2011. 559 S., Abb. ISBN: 978-985-01-0938-5.
Am 12. (24.) Juni 1812 überquerte Napoleon die Memel, besetzte danach den Westen, bis Ende August fast das ganze übrige Gebiet der heutigen Republik Belarus. Bereits am 1. Juli richtete er in Vilnius (Wilna) eine provisorische Regierung des nun wieder Großfürstentum Litauen genannten Gebietes ein. Dieser gehörten Franzosen sowie Mitglieder des einheimischen Adels an. Die Adligen kooperierten mit den Franzosen, weil Napoleon ihnen versprochen hatte, das Großfürstentum Litauen und die polnische Adelsrepublik in den Grenzen von 1772 wiederherzustellen.
Zu den 200-Jahr-Feierlichkeiten, die in Belarus mit einem großen Reenactment der Beresina-Überquerung begangen wurden, haben Andrej Lukaševič, Dozent für Zeitgeschichte an der Staatlichen Universität Minsk, und Dmitrij Jackevič, Leiter der Abteilung für Veröffentlichungen am Nationalen Staatsarchiv, 135 bisher unpublizierte Dokumente aus dem Nationalen Historischen Archiv der Belarus in Minsk sowie dem Nationalen Historischen Archiv in Grodno veröffentlicht. Diese informieren über die Vorbereitung des Krieges, die politische, militärische und wirtschaftliche Situation im Gebiet der heutigen Republik Belarus zwischen Juli und Dezember 1812, die Folgen des Krieges, das Schicksal der Kriegsgefangenen und die Jubiläumsaktivitäten 1912. Die Dokumente stammen hauptsächlich aus den Verwaltungsapparaten der damaligen Gouvernements Vitebsk, Minsk und Mogilev, aber auch vom Geistlichen Konsistorium in Minsk. Der Band ist chronologisch aufgebaut und in sieben Teile gegliedert. Datiert wurden die Dokumente im Sammelband gemäß dem im damaligen Russischen Reich gültigen Kalender, in Klammern beigefügt wurde das Datum nach westlicher bzw. heutiger Zählweise.
Die ersten drei Teile behandeln die Situation im Gebiet der heutigen Republik Belarus zwischen 1810 und 1812, als immer deutlicher wurde, dass trotz des Friedensvertrags von Tilsit 1806 ein weiterer Krieg bevorstand. Die Dokumente im ersten Teil informieren über die politischen Vorbereitungen der russischen Regierung in dem Gebiet, das erst seit vergleichsweise kurzer Zeit zum Russischen Reich gehörte (der östliche Teil seit 1772, der zentrale seit 1775, der westliche seit 1792). Parallel zur zivilen entstand nun eine militärische Verwaltung, und im Kampf gegen die „Agentur“ Napoleons wurden Ausländer ausgewiesen, die als (potentielle) Spione galten.
Teil zwei enthält Dokumente über die militärischen Vorbereitungen. Da sich die Grenze verschoben hatte und es im Gebiet der heutigen Republik Belarus keine modernen Verteidigungsanlagen gab, wurden nun eilig Festungen (aus-)gebaut und Wälle aufgeschüttet. Ausgeführt haben die Arbeiten in die Armee rekrutierte Leibeigene. Damit diese Soldaten das Gebiet so schnell und reibungslos wie möglich durchqueren und an ihren Bestimmungsort gelangen konnten, forderte die Gebietsverwaltung Karten, Wegbeschreibungen, die Reparatur von Straßen sowie Informationen über die Anzahl der Häuser, in denen Soldaten untergebracht werden konnten.
Aus den Dokumenten des dritten Teils geht hervor, woher die „menschlichen und materiellen Ressourcen“ für den Krieg stammten. Gemäß dem Ukaz von Zar Alexander I. vom 23. März 1812 mussten die Gutsbesitzer auf 500 Leibeigene („Seelen“) zwei Rekruten in die Armee entsenden. Dazu kamen finanzielle und materielle Abgaben (Tuch, Getreide). Zur Kasse gebeten wurden weltliche wie geistliche Landbesitzer. Die Bevölkerung des Gouvernements Mogilev wurde zu Bauarbeiten an der Festung Bobrujsk aufgeboten. Hierher sollte sich im Kriegsfall die russische Armee zurückziehen, allerdings erwies sich dieser Plan dann als ungeeignet, weil die Festung leicht umgangen werden konnte. Schließlich galt es, Lebensmittel für die Vorratsspeicher der Armee sowie die Wagen für deren Transport zu beschaffen. Ähnliche Magazine ließ auch Bonaparte in Preußen und Polen anlegen. Schlussendlich konnten dann aber die russischen Armeen die bereitgestellten Vorräte besser nutzen und besaßen damit einen wichtigen Vorteil.
Die Dokumente des vierten Teils zeigen, was nach dem Eintreffen der französischen Armee ab dem 12. (24.) Juni 1812 geschah. Die Erste Russische Armee zog sich nach Bobrujsk zurück und verlangte Wagen für den Transport der erkrankten Soldaten und von Armeegütern. Die Beamten des Schatzamtes von Minsk (kazennaja palata) verließen mit ihren Familien und Dienern die Stadt und erhielten dafür Weggeld. Gleichzeitig nahm in Vilnius (Wilna) die Kommission der provisorischen Regierung des Großfürstentums Litauen ihre Tätigkeit auf, die Napoleon mit der Leitung der Gouvernements Vilnius, Minsk, Grodno und des Gebietes von Białystok beauftragt hatte.
Aus den detaillierten Anmerkungen erfährt man, dass die Kommission aus sieben namhaften Vertretern der lokalen Elite bestand. Unter ihnen waren der Gutsbesitzer Stanisław Sołtan, der 1806 einen Aufstand gegen die russische Herrschaft vorbereitet hatte, der Altertumswissenschaftler Józef Sierakowski sowie der Astronom und (bis 1815) Rektor der Universität Wilna Jan Śniadecki. Der Kommission gelang es nicht, ihr vermutlich wichtigstes Ziel zu erreichen und die Staatlichkeit des Großfürstentums Litauen in ihrem früheren Ausmaß wiederherzustellen. Die Redaktoren nennen als Gründe dafür „Mangel an Mitteln und Zeit, eine unglückliche Auswahl der Mitarbeiter, die niedrigen Führungsqualitäten der zentralen Leitungsorgane sowie die scharfen Gegensätze zwischen den Vertretern der französischen und der lokalen Verwaltung“. Nach der Rückeroberung durch die russische Armee ging die Kommission zuerst nach Warschau, dann nach Dresden und beendete hier im Juli 1813 schließlich ihre Tätigkeit.
Das Gebiet östlich der Dvina (Düna) stand unter der Kontrolle der russischen Armee. Ein zehnseitiger Bericht des General-Leutnants Graf Witgenstein über die Schlacht bei Polozk im August 1812 schildert detailliert, wo Soldaten verloren und verletzt und wie viele Waffen und „lebendige Kräfte“ erobert bzw. gefangenengenommen wurden. Am 12. Dezember 1812, nach der vollständigen Rückeroberung des Gebietes, verkündete Zar Alexander I. eine Amnestie für alle Bewohner der ehemals polnischen Gebiete, die mit den Franzosen kollaboriert hatten. Neben diesem Manifest veröffentlicht das Buch die Gesetze, gemäß denen verlassene Gutshöfe vom Staat konfisziert werden konnten. Davon betroffen waren die Adligen, die mit den Überresten der „Grande Armée“ in den Westen gezogen waren.
Der fünfte Teil veröffentlicht die Schadensinventare und andere Verzeichnisse über zerstörtes Gut. Für die Stadt Borisov, die bei den Rückzugskämpfen an der Beresina zerstört worden war, wird der Schaden auf fast 700.000 Rubel beziffert; über 200 hölzerne Wohnhäuser und 200 weitere Gebäude waren zerstört. Die Schadenssumme für Bobrujsk betrug 540.000 Rubel, für Sluck 115.000 Rubel; für das Gouvernement Minsk insgesamt 34 Millionen Rubel. Bezogen auf das ganze Gebiet der heutigen Republik Belarus soll die Schadenssumme 51,8 Millionen Rubel betragen haben.
Der fünfte Teil schließlich bietet einen Einblick in das Schicksal der Kriegsgefangenen der Großen Armee. Ab März 1813 erhielten die Beamten der Gebietsverwaltungen den Auftrag, Listen der Soldaten aufzustellen, die man in den Dörfern, Kleinstädten und Gutshöfen „entdeckte“, was darauf hinweist, dass bis dahin kaum Buch geführt worden war. In den Verzeichnissen, die daraufhin beim Militärgouverneur eintrafen, findet man die Namen zahlreicher Franzosen, aber auch Vertreter der anderen Staaten und Herrschaftsgebiete, die ebenfalls Soldaten bereitgestellt hatten. Im Juni 1813 wurden 200 Gefangene, die für „Leibeigenenarbeit tauglich“ befunden wurden, zum Festungsbau nach Borisov geschickt. Ausgestattet wurden die Kriegsgefangenen mit requiriertem Tuch bzw. Kleidung. Während zwei Dokumente berichten, dass Franzosen über den Bug schwammen und dadurch in die Freiheit gelangten, zeigen zwei andere, dass 81 Gefangene um Aufnahme in den russischen Untertanenverband baten, und wieder ein anderes, wie im Winter 1813 Gefangene aus Sachsen, Bayern und Baden in die Heimat entlassen wurden.
Der letzte Teil dokumentiert die zahlreichen Maßnahmen, mit denen im 19. Jahrhundert und vor allem 1912 des Feldzugs gedacht wurde. In den meisten Fällen geht es um die Errichtung von Denkmälern. Sehr informativ ist daneben der Bericht eines Lehrers über die Auswirkungen des Feldzugs auf das Gouvernement Grodno. Eine Art Best-of bilden schließlich 16 Abbildungen von besonders wichtigen oder schön gestalteten Dokumenten. Insgesamt leistet die Publikation einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Feldzugs, über den in den deutschsprachigen Darstellungen zur Geschichte von Belarus bisher noch recht wenig zu finden ist.
Zitierweise: Eva Maeder über: Belarus’ i vojna 1812 goda. Sbornik dokumentov. [Weißrussland und der Krieg von 1812. Quellensammlung.] Sost. A. M. Lukaševič / D. L. Jackevič. Red. koll. V. I. Adamuško (gl. red.) i dr. Minsk: Belarus’, 2011. 559 S., Abb. ISBN: 978-985-01-0938-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Lukasevic_Belarus_i_vojna_1812_goda.html (Datum des Seitenbesuchs)
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