Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2011, 1
Verfasst von: Eva Maeder
Olga Kurilo (Hrsg.) Der Zweite Weltkrieg im deutschen und russischen Gedächtnis. Berlin: Avinus Verlag, 2006. 364 S., 32 Abb. ISBN: 978-3-930064-67-7.
Der Zweite Weltkrieg war ein Ereignis von gigantischem Ausmaß – gezählt werden 62 Millionen Tote, zehn deportierte Völker, Hunderttausende von Flüchtlingen. Welches aber ist sein Stellenwert heute? Diese Frage wurde von einer breit abgestützten Forschergruppe an der Universität in Frankfurt/Oder, den russischen Universitäten in Ivanovo und Vjatka sowie dem Moskauer MGIMO untersucht. Unterstützt vom Fonds „Erinnerung und Zukunft“ sind die Resultate nun als Sammelband erschienen. Von Professoren, Universitätsassistenten, Journalisten, Heimatkundlern und Zeitzeugen verfasst, werden die 26 Beiträge in sechs übergreifenden Kapiteln präsentiert.
O. Kurilo weist in ihrem einleitenden Aufsatz zum ersten Teil („Kollektives Gedächtnis und Erinnerungsorte“) auf zwei grundsätzliche Gegensätze hin: In Deutschland wird das Wissen über den Krieg eher sachlich-rational, in Russland emotional-patriotisch vermittelt; Deutsche sahen sich bislang als Täter, Russen als Opfer. Die weiteren Beiträge des ersten Kapitels legen Gründe für diese Unterschiede dar, zeigen aber auch, dass scheinbar festgefahrene Diskurse sich zu verändern beginnen. H. Schützler verglich die Berichterstattung über den 60. Jahrestag des Kriegsendes in beiden Ländern. Während in Russland die politische Führung die Erinnerung weiterhin zur Identitätsstiftung instrumentalisiert, kam in Deutschland hingegen die Sicht, selbst ebenfalls ein Opfer gewesen zu sein, 2005 erstmals deutlich zum Ausdruck. Neue Töne sind allerdings genauso in Russland vernehmbar: So macht in St. Petersburg die bisherige offizielle Version der Blockade zaghaft einer Alltagsgeschichte Platz (O. Tomicka), so dass dank dem Einsatz sowjetischer Dissidenten und von Memorial auch all derer gedacht werden kann, die im Gulag und nicht als Helden an der Front ums Leben kamen (A.-K. Mätzold).
E. Scherstjanoj hält in ihrem Beitrag im zweiten Kapitel („Fremd- und Propagandabilder“) eine weitere grundsätzliche Erkenntnis fest: In der privaten Erinnerung gab und gibt es eine breite Vielfalt von Wahrnehmungen, Sinngebungen und veränderlichen Bildern. Allgemeine Aussagen lassen sich daher viel leichter über die offiziellen sowjetischen Texte machen. Dazu gehören Lehrbücher der Literatur, deren Deutschenbild den Konjunkturen des deutsch-sowjetischen Verhältnisses folgte (E. Greku), aber auch die Kinderlyrik, in denen der deutsche Faschist einen festen Topos bildet (C. Bischatka).
Auch das dritte Kapitel über den Krieg in Film und Werbung zeigt, wie schematisierte Bilder dauernd weiterverbreitet, im einzelnen aber auch variiert wurden. In sowjetischen Filmen verkörperten Deutsche lange Zeit das Böse (P. Jahn), Russen kämpften hingegen aus Heldenmut, in Darstellungen der Tauwetterperiode aber auch aus schierem Überlebensdrang (A. Religa). Seit der Transformation zum Kapitalismus dient der Sieg nicht mehr nur dem russischen Staat, sondern auch privaten Betrieben als Image- und Prestigeinstrument. Diese nutzten das Jubiläum 2005 zur indirekten wie direkten Gewinnerzielung, während der Staat wie die größeren Kommunen Millionen in die propagandistische Aufbereitung investierten (E. Lysceva).
Die Autoren des vierten Kapitels („Zivilbevölkerung und Kriegsteilnehmer“) rekonstruierten, wie bestimmte Gruppen oder Einzelpersonen den Krieg erlebten. E. Medvedcyna beschreibt mit schriftlichen Quellen aus dem Gebiet Kirov die aus heutiger Sicht erstaunlichen Leistungen und die Leidensbereitschaft im Hinterland; O. Bajkova zeigt mit bei Dialektstudien gesammelten Aufnahmen, wie Russlanddeutsche nach der Deportation im Gebiet Vjatka überlebten. Die Erinnerungen des Zeitzeugen K. Behrend hinterlassen den Eindruck einer im Vergleich zur Sowjetunion doch relativ komfortablen Ernährungssituation in Ostpreußen. In den Kriegsheften eines Topographen im sowjetischen Divisionsstab finden sich Topoi wie der der „Frontgenossenschaft“, aber auch ein jeweils der Situation angepasstes Feindbild (O. Soldatenkova). Ein deutscher Obergefreiter, der im Kessel von Stalingrad kämpfte, stellte in seinem Tagebuch Hitler als eine Art „Messias“ dar, äußerte sich aber auch kritisch über den Krieg (N. Pozdyševa).
Das fünfte Kapitel: „Kriegsgefangene“ – behandelt werden darin auch die „Ostarbeiter“ – erinnert an zwei große sowjetische Opfergruppen, die während des Krieges unter dem Generalverdacht des Verrats standen und deren Schicksal auch danach zu den Tabuthemen zählte. Erst in den Perestrojka-Jahren konnten die dadurch doppelt Bestraften ihre Erinnerungen ohne Risiko zu Papier bringen und während der Zwangsarbeit in Deutschland entstandene Tagebücher erscheinen (P. Polian). Heute gibt es bei der Sicherung der historischen Spuren Erfolge wie Niederlagen zu verzeichnen: 1993 mussten die Überreste eines Kriegsgefangenenlagers in Fürstenberg dem nicht realisierten Plan einer Gewerbeanlage weichen, gleichzeitig gelang es aber auch, die Identität zahlreicher ehemaliger Gefangener zu ermitteln (M. Böckler). Die FSB-Dokumente des vom NKVD betriebenen Lagers für Generäle in Černcy bleiben weiterhin gesperrt; aus den zugänglichen Quellen lassen sich dennoch zahlreiche Aspekte des Lageralltags rekonstruieren (S. Točënev).
Das letzte Kapitel („Patriotismus, Nationalismus und Gedächtnis“) erweitert den Band um die wichtige nationale Komponente. Belarussisch-national inspirierte Forscher haben begonnen, den Heldenmythos der Partisanenbewegung zu revidieren. Auch sie bleiben ideologischen Prämissen verhaftet, argumentieren jedoch deutlich wissenschaftlicher als die bisherigen sowjetischen Publikationen (M. Schön). In der Ukraine dreht sich die Diskussion vor allem um die Rolle der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) und der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Obwohl dazu zahlreiche neue wissenschaftliche Darstellungen erschienen sind, hält die Mehrheit der Bevölkerung an der jahrelang von der sowjetischen Propaganda eingehämmerten Dichotomie: „Deutsche = Besatzer“, „Russen = Befreier“ fest (I. Demyanchuk).
Insgesamt zeigt dieser Sammelband, wie die die offiziell vermittelte aber auch die aus persönlichen Erfahrungen gespeiste Erinnerung allmählich in eine abstrakte, analytische Betrachtung des Krieges übergeht. Die thematische wie methodische Breite der Beiträge, von denen hier nur gut die Hälfte behandelt werden konnte, verbindet sich mit gewissen Schwächen: Die Texte sind von unterschiedlicher Qualität, es gibt Überschneidungen, es fehlt die Synthese. Doch wer sich einen Überblick verschaffen will, welch unterschiedliches Gewicht der Zweite Weltkrieg in Russland und Deutschland weiterhin besitzt, wie vielfältig die Erinnerung an ihn aber auch ist, der ist damit gut bedient.
Eva Maeder, Zürich
Zitierweise: Eva Maeder über: Olga Kurilo (Hrsg.) Der Zweite Weltkrieg im deutschen und russischen Gedächtnis. Avinus Verlag Berlin 2006. ISBN: 978-3-930064-67-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Kurilo_Der_Zweite_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)
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