Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Eva Maeder
Dynnikova, Irina: Morozovskij chor v kontekste staroobrjadčeskoj kul’tury načala XX veka + CD. [Der Morozov-Chor im Zusammenhang der altgläubigen Kultur vom Anfang des 20. Jh. + CD.] Moskva: Indrik, 2009. 440 S., Fotoabb. ISBN: 978-5-91674-055-4.
Noch heute kennt man die Familie Morozov als Altgläubige, Textilfabrikanten und Kunstsammler aus der Zeit vor der Russischen Revolution. Doch kaum jemand weiß, dass einst auch ein Altgläubigenchor mit bis zu 500 Mitgliedern, einem anerkannt hohen Niveau und einer bedeutenden Konzerttätigkeit den Namen Morozov trug. Irina Dynnikova hat eine Vielzahl von Quellen zu diesem Ensemble zusammen getragen und in ihrer 2008 eingereichten Dissertation unter historischen wie musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgewertet. Entstanden ist eine sehr dichte Erzählung über das „Goldene Jahrzehnt“ der Altgläubigen zwischen dem Toleranzedikt von 1905 und 1917.
Die chronologisch gegliederte Darstellung beginnt mit den Auswirkungen des Toleranzedikts von 1905. Während vorher die religiösen Aktivitäten weitgehend in den Untergrund verbannt waren, konnte sich nun das aufgestaute Potential der Altgläubigen ungehindert entfalten. In kurzer Zeit entstanden ein Lehrerseminar, zahlreiche Kirchenschulen und über 1000 Kirchen und Gebetshäuser.
Die Morozovs hatten als großzügige Mäzene und Stifter von rund hundert Kirchen einen beträchtlichen Anteil an diesem Aufschwung. Das zweite Kapitel zeigt, wie die Familie ihr sagenhaftes Vermögen erwarb und sich in fünf Zweige aufspaltete. Als Begründer der Dynastie gilt der Leibeigene Vasilij Morozov, der 1797 bei Bogorodsk (heute: Noginsk) eine Seidenweberei eröffnete und diese dank der Aussteuer und Mitarbeit seiner Frau zum Blühen brachte. Sein Sohn Savva kaufte sich frei und stieg zum Kaufmann der ersten Gilde auf. Die Enkel begründeten fünf eigenständige, jeweils nach dem Stammvater benannte Familienzweige, die unterschiedlichen Ausrichtungen des Altgläubigentums angehörten. Am meisten dem Bild der radikalen Altgläubigen entsprachen die Vikuloviči, die als priesterlose Pomorcy die religiösen Vorschriften strenger und wortgetreuer befolgten als andere altgläubige Gruppierungen. Die Abramoviči traten hingegen zunächst zum „Einglauben“ (Edinoverie), später ganz zur Russisch-Orthodoxen Kirche über. Dazwischen befanden sich die Familien Timofejs, Zachars und Ivans, die alle der priesterlichen altgläubigen Hierarchie von Belokrinica angehörten.
Mochten die religiösen Gegensätze spaltend wirken, so wurde die Familie durch das gemeinsame Engagement im selben Wirtschaftssektor geeint. Aufgeteilt auf die Standorte Tver’, Nikol’sk (heute: Orechovo-Zuevo) und Bogorodsk besaßen die fünf Zweige prosperierende Textilfabriken. Dynnikova erklärt den wirtschaftlichen Erfolg ähnlich wie Max Weber mit der besonderen Ethik der Altgläubigen und verweist auf zwei zusätzliche Aspekte. Einerseits bildete das Geldanhäufen eine Strategie, bei Verfolgungen heil davon zu kommen. Daraus entwickelte sich andererseits im 18. Jahrhundert die Lehre, dass Arbeit, die zur Stärkung der Gemeinde führe, den Weg zum Seelenheil ebne. Möglicherweise versuchten sich die verschiedenen Familienzweigen deswegen in Wohltätigkeit zu übertreffen. Insgesamt finanzierten sie alleine in Moskau rund 70 öffentliche Bauten, darunter auch das Moskauer Künstlertheater.
Einen Wunsch, sich zu betätigen, verspürten die Morozovs aber nicht nur im Bereich der medizinischen Versorgung, der Bildung, des Kirchenbaus und der Kultur, sondern auch im altgläubigen Kirchengesang, der im dritten Kapitel vorgestellt wird. Dabei geht es um jene Teile der Liturgie, welche die Gläubigen bzw. ein Laienchor während des Gottesdienstes singen. Notiert hatte man diese Lieder mit besonderen, auf die Zeit vor der Kirchenspaltung 1666/7 zurückgehenden Zeichen, den sogenannten krjuki (Haken). Diese bezeichnen jedoch nicht die Höhe und Länge eines musikalischen Tones, sondern vielmehr die Übergänge. Sie konnten in der Regel also nur von denjenigen gelesen werden, welche die Melodie bereits kannten. Kirchengesang wurde folglich stärker übers Gehör vermittelt als mit geschriebenen Büchern. Er stellte hohe Ansprüche, denen besonders die abgelegenen Gemeinden ohne ausgebildete Sänger nicht mehr genügten. Diese Defizite blieben nicht verborgen, und es gab intensive Bemühungen, das Niveau zu verbessern. Nach 1905 entstanden drei Gesangsschulen; dazu finanzierte Arsenij Morozov (1850–1932) aus dem Zweig der Zacharoviči eine sechsbändige Edition der liturgischen Gesänge sowie Konzerte und Schallplattenaufnahmen mit dem ebenfalls von ihm gegründeten Chor.
Dynnikova würdigt dieses Engagement im vierten Kapitel, dem eigentlichen Herzstück ihres Buches. Arsenij Morozov leitete mit dem Grundsatz „Nicht trinken, rauchen, stehlen“ eine Textilfabrik mit bis zu 10.000 Arbeitern. Diese lag in Bogorodsk, einem Zentrum der priestertreuen Altgläubigen, welche die Dörfer der Umgebung besiedelten. Arsenij Morozov soll bei Neuanstellungen vorzugsweise Altgläubige gewählt, an diese aber auch besonders hohe Ansprüche gestellt haben. Für sie unterhielt er ein bis 1905 illegales Gebetshaus, in dem der später nach Arsenij Morozov benannte Chor entstand. Als Gründungsdatum kann man das Jahr 1872 bezeichnen, in dem der Spinnereiangestellte Ivan Fortov das Amt des Chorleiters übernahm und mit der gezielten Auswahl und Ausbildung der Sänger begann. 1907 trat an dessen Stelle Pavel Cvetkov, der ebenfalls keine akademische Gesangsausbildung besaß, sondern bereits als Knabe im Chor gesungen hatte und von Fortov geschult worden war. Neben dem Männer- gab es auch einen Frauenchor, was bei andern Altgläubigen auf heftige Kritik stieß, weil man sich vor den Verfall der Sitten fürchtete und Frauen die Fähigkeit zum Kirchengesang absprach.
Unter Cvetkov nahm der Chor eine erste Konzerteinladung des Moskauer Konservatoriums an, dem bis zu seinem frühen Tod 1911 ein knappes Dutzend weitere folgen sollten. Für Arsenij Morozov bedeuteten die Auftritte eine Gelegenheit, dem Publikum die Schönheit des altgläubigen Gesangs vorzustellen und zu betonen, welche bedeutende Rolle die Altgläubigen als Bewahrer der altrussischen Kultur spielten. Die Altgläubigen hatten im Kirchengesang die Einstimmigkeit beibehalten, während die Staatskirche im 17. Jahrhundert zur melodiöser klingenden Vielstimmigkeit gewechselt war.
Die Konzerte lösten bei den Zuhörern gegensätzliche Reaktionen aus. Besonders altgläubige Kritiker betrachteten das Singen auf weltlichen Bühnen als grundsätzlich unzulässig. Sie nahmen auch Anstoß daran, dass der Morozov-Chor gewisse Praktiken des akademischen Konzertbetriebs übernommen hatte. Der Chorleiter wandte den Sängern nicht mehr den Rücken zu, um zum Altar zu blicken, sondern sah diese an, leitete sie mit den Gesten eines Dirigenten und benutzte ein Pult. Als Cvetkov bei einem Gesang um eine Terz von der üblichen Einstimmigkeit abwich, führte dies zu einer weiteren, über ein Jahr dauernden Diskussion in Fachzeitschriften. Andere Zuhörer hingegen erhielten das Gefühl, Einblick in eine vergangen geglaubte Welt gewonnen zu haben, und zeigten sich begeistert vom hohen technischen Niveau der Darbietung. Positives Staunen verursachte nicht zuletzt der Frauenchor. Dessen Auftritt führte dazu, dass ein Rezensent seine Meinung änderte und von einem Gegner zu einem Befürworter von Frauenchören wurde.
Im letzten Kapitel nutzt Dynnikova die überlieferten Schallplattenaufnahmen, um zu untersuchen, wie stark die Gesangsweise des Chors tatsächlich von der altgläubigen Tradition abwich. Nach einer sorgfältigen Analyse spricht die Autorin das Ensemble vom Vorwurf der früheren Kritiker frei und zeigt, dass es den liturgischen Gesang in allen wesentlichen Punkten vorschriftsgemäß ausführte – jedoch mit so präziser Diktion, lebhaftem Tempo und guten Stimmen, dass sich dies sicher von der damaligen Praxis altgläubiger Gemeinden unterschied. Die beigelegte CD sowie die ausführlichen, manchmal etwas gar exzessiven Quellenzitate machen das Urteil für den Leser vollständig nachvollziehbar. Insgesamt überzeugt die Autorin damit, dass es sich beim Morozov-Chor um die „glänzendste Perle“ des goldenen Jahrzehnts der Altgläubigen gehandelt habe. Damit ist am Lehrstuhl für die Geschichte der russischen Musik des Moskauer Konservatoriums, an dem Ort also, wo der Morozov-Chor 100 Jahre zuvor aufgetreten ist, eine bleibende Hommage entstanden.
Zitierweise: Eva Maeder über: Dynnikova, Irina: Morozovskij chor v kontekste staroobrjadčeskoj kul’tury načala XX veka + CD. [Der Morozov-Chor im Zusammenhang der altgläubigen Kultur vom Anfang des 20. Jh. + CD.] Moskva: Indrik, 2009. 440 S., Fotoabb. ISBN: 978-5-91674-055-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Dynnikova_Morozovskij_chor.html (Datum des Seitenbesuchs)
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