Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karsten Linne

 

Karl Heinz Roth / Jan-Peter Abraham: Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944. Hamburg: Edition Nautilus, 2011. 574 S., zahlr. Abb., Ktn. ISBN: 978-3-89401-745-3.

Die Autoren der vorliegenden Studie zum Engagement der Hamburger Firma Reemtsma auf der Krim betreten in vieler Hinsicht Neuland. Wir wissen zwar mittlerweile, und völlig zu Recht, wichtige Details zur Zwangsarbeit im damaligen Reichsgebiet – fast zu jeder auch nur mittelgroßen Stadt gibt es eine Monographie –, aber wir wissen extrem wenig über die in den besetzten Gebieten für die deutsche Wirtschaft geleistete Zwangsarbeit, speziell in der damaligen Sowjetunion. Ähnlich ernüchternd fällt der Blick auf die vorhandene Literatur zu den Aktivitäten deutscher Unternehmen in den besetzten Gebieten aus. Neuland betritt die Studie aber auch in methodischer Hinsicht, indem sie die aktengestützte Arbeit zur Firmen- und Besatzungsgeschichte durch mündliche Zeugnisse der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ergänzt.

Als die Wehrmacht im Herbst 1941 in die ersten südrussischen Tabakanbaugebiete vordrang, folgten ihr die Mitarbeiter Reemtsmas auf dem Fuße. Zur Absicherung und Unterstützung der operativen Arbeit platzierte die Firma ihre Manager in den entscheidenden Gremien des Wirtschaftsstabes Ost und seiner regionalen und lokalen Dependancen. Der Anfang gestaltete sich jedoch schwierig, da die sowjetischen Truppen Anlagen demontiert oder zerstört hatten. Dafür konnten die Reemtsma-Mitarbeiter jedoch auf die bestehenden organisatorischen Strukturen sowie die sowjetischen Fachleute zurückgreifen. Zunächst standen die Konfiskation und der Abtransport der aufgefundenen Beute im Vordergrund. Mit den deutschen militärischen Erfolgen wurde im Frühjahr 1942 der Anbau-, Ernte- und Verarbeitungszyklus des Tabaks wieder aufgenommen. Dazu gehörte auch der Wiederaufbau der fast völlig zerstörten industriellen Verarbeitungszentren. Die Ziele Reemtsmas waren ambitioniert: Die Anbaufläche sollte vergrößert, die Ernte gesteigert, und vor allem sollte der Schwerpunkt auf die qualitativ höherwertigen Tabake gelegt werden. Die Ernte entsprach dann letztlich nicht den hochgesteckten Zielen.

Ende 1942 wurde die Krim Orienttabak-Anbau GmbH (KORAN) gegründet, Reemts­ma trat nun offen auf, und die KORAN übernahm als private „Einsatzfirma“ alle Einrichtungen und Anlagen des Tabakkontors. Ihr Hauptziel bestand in der Steigerung der Zigarettenfabrikation, wofür sie einen neuen Fabrikationsstandort in Simferopol einrichtete. Im September 1943 wurde so der Höchststand der Produktion erreicht; die Versorgung der kompletten Heeresgruppe A konnte sichergestellt werden.

Die Tabakernte 1943 stand bereits unter dem Zeichen der militärischen Ereignisse; sie konnte aber immerhin bis Anfang Oktober zu zwei Dritteln eingebracht werden. Seit Ende Oktober waren die KORAN-Mitarbeiter die einzigen Repräsentanten eines deutschen Unternehmens auf der Krim. Die Vorbereitungen auf die Anbaukampagne 1944 liefen, als die Rote Armee im April zu ihrer Schlussoffensive ansetzte. Insgesamt betrachtet erzielte die KORAN laut den Autoren eine „bemerkenswerte Rentabilität“. Ihr Erfolg „basierte erstens auf der gewaltsamen und kostenlosen Aneignung von über der Hälfte (53,8 Prozent) aller Tabakernten, zweitens auf der kostenlosen Aneignung und Nutzung der tabakwirtschaftlichen Infrastruktur und drittens auf der Verwertung extrem billiger und überwiegend unfreier Arbeitskräfte, die mit einer zynischen Mischung aus Terror, Hungerpolitik und Leistungsanreizen konfrontiert waren“. (S. 352)

Diese eigentlich Betroffenen kommen dann zu Wort. Ihre eindrücklichen Berichte beschreiben die schwierigen Arbeits- und Überlebensbedingungen, die geprägt waren durch die von den deutschen Besatzern eingeführte Arbeitspflicht und den allgegenwärtigen Hunger. Ebenso interessant ist der Blick der ehemaligen Arbeitskräfte auf die Rahmenbedingungen der Okkupation sowie ihr eigenes Schwanken zwischen Widerstand und Kollaboration. Das ist ein besonders schwieriges Kapitel bei den überwiegend tatarischen Pflanzerfamilien. Es provozierte Risse durch ganze Dörfer, oft sogar durch die Familien selbst.

Resümiert man die wichtigsten Ergebnisse der Studie, dann fallen vor allem drei ins Auge: Es überrascht vor allem, in welch hohem Maße die einheimische Bevölkerung zur Arbeit mobilisiert wurde. Demgegenüber fielen die Deportationen zur Zwangsarbeit in Deutschland kaum ins Gewicht. Genauso überraschend ist auf den ersten Blick die fast vollständige Übernahme der sowjetischen Produktionsstrukturen; die „Neue Agrarordnung“ konnte sich in diesem Sektor nicht durchsetzen. Die Autoren betonen drittens, dass man die Arbeitsverhältnisse der Tabakarbeiter wohl am ehesten mit dem Begriff „unfreie Arbeit“ fassen könne. Damit umschiffen sie die Klippen, die bei einem stark eingeschränkten und reduzierten Begriff der „Zwangsarbeit“ drohen.

Das einzige Manko der insgesamt sehr lesenswerten Studie ist ein ambivalentes: Die Autoren holen weit, bisweilen sehr weit aus. Zur Erleichterung des Gesamtverständnisses ist das sicher nicht verkehrt, streckenweise aber sind die Passagen zur Firmengeschichte, zu den militärischen Ereignissen und zur Besatzungspolitik dann aber doch etwas lang geraten. Wenn man als Leser erst auf Seite 236 (!) auf das eigentliche Thema stößt, braucht man einen langen Atem. Der wird dann allerdings auch mit der Lektüre einer innovativen Arbeit belohnt. Wer zur NS-Besatzungspolitik im Osten – und nicht nur dort – etwas sagen möchte, wird an dieser Studie nicht vorbeigehen können.

Karsten Linne, Hamburg

Zitierweise: Karsten Linne über: Karl Heinz Roth / Jan-Peter Abraham: Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944. Hamburg: Edition Nautilus, 2011. 574 S., zahlr. Abb., Ktn. ISBN: 978-3-89401-745-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Linne_Roth_Abraham_Reemtsma_auf_der_Krim.html (Datum des Seitenbesuchs)

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