Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ruth Leiserowtitz

 

Robert Traba: Przeszłość w teraźniejszości. Polskie spory o historię na początku XXI wieku [Vergangenheit in der Gegenwart. Polnische Geschichtsdebatten am Anfang des 21. Jh.]. Poznań: Wydawn. Poznańskie, 2009. 325 S. ISBN: 978-83-7177-627-4.

Inhaltsverzeichnis:
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Der polnische Historiker Robert Traba, Begründer der Allensteiner KulturgemeinschaftBorussia“, langjähriger Herausgeber der gleichnamigen Zeitschrift und jetziger Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin legt hier einen Band vor, der in gewisser Weise als Fortsetzung seiner früheren Sammelbände „Kraina tysiąca granic“ [Land der Tausend Grenzen] (2003) und Historiaprzestrzeń dialogu“ [Geschichteein Raum für den Dialog] (2006) gesehen werden kann. Das Werk von 2009 versammelt 22 Skizzen des Autors, die sich allesamt mit der historischen Erinnerung in der Gesellschaft oder der Wirkmächtigkeit von Geschichte im öffentlichen Raum befassen. Einige dieser Texte wurden bereits früher in Periodika wie derBorussia“ veröffentlicht, sind jedoch für diese Ausgabe noch einmal überarbeitet worden. Traba schreibt:Ich habe mich bemüht, (mit Ausnahme eines älteren Textes) meine Erfahrungen der letzten zwei bis drei Jahre zusammenzufassen und sie in eine möglichst konsequente Narration zu fassen, mit der ich meinen Platz in der Landschaft der polnischen Geschichtsdebatten zu beschreiben versuche.“ Gerade in diesem Zeitraum ist der Autor jedoch nach Berlin gezogen, um dort das bereits erwähnte Zentrum zu leiten, und so wird der Tenor eines Großteils der Beiträge von seiner Berliner Arbeit und den dortigen Erfahrungen geprägt und nicht so sehr von innerpolnischen Debatten. Der Band lässt sich in doppelter Hinsicht lesen. Einmal als Resümee der Arbeit des Autors, die er an die polnischen Fachkollegen adressiert, zum anderen als Votum eines Polen, der ausgezeichnete interkulturelle Kompetenzen besitzt und versucht, europäische Perspektiven einzuführen.

Traba hat die Beiträge unter drei Überschriften gruppiert:Geschichte als Politikum“,Geschichte als Methode“ undGeschichte als Studium des Zufalls“. Er eröffnet sein erstes Kapitel mit dem TextStreit um Geschichte“, in dem er sich zu den Diskussionen um Geschichtspolitik äußert, die zwischen 2004 und 2007 in Polen stattfanden. Er merkt an, dass es in jenem Zeitraum nicht zu kritischen Selbstreflektionen über dieses Thema gekommen sei. Einerseits werde man zurAffirmation der Nationalgeschichte“ genötigt, andererseits stelle man dieWirklichkeit“ schwarz-weiß dar. Er spricht von einerwarschauzentrierten Perspektive“ in dieser neuen Geschichtspolitik, erwähnt in diesem Zusammenhang das bekannte und einzig auf Drittmittel angewiesene Geschichtsprojekt KARTA, das immer wieder von Existenzsorgen bedroht war und ist, und schlussfolgert:Dadurch, dass KARTA den offensichtlichen Luxus einer staatsfinanzierten Einrichtung verloren hat, konnte es Unabhängigkeit erreichen und hatte die Möglichkeit, eine eigene Geschichtsversion zu kreieren.“ Resümierend verweist Traba auf die bereits jahrzehntelange Arbeit der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission und erhofft sich, dass es anhand des deutsch-polnischen Schulbuchesbreite Diskussionen um den Platz der Geschichte im öffentlichen Raum geben“ möge. Von polnischen Rezensenten (Jakub Kny­żew­ski, Maria Wojt­czak) wurde besonders herausgestellt, dass in diesem Band Fragen nach dem Patriotismus und der Krise des Nationalstaates behandelt werden. Damit beziehen sie sich hauptsächlich auf den gerade besprochenen Beitrag. Dieser thematische Schwerpunkt wird auch durch den Untertitel suggeriert. Dabei erweist sich das gesamte Spektrum während der Lektüre als wesentlich breiter.

Innerhalb des ersten Kapitels gehört der TextDie Polyphonie der Erinnerung“ zu den besten Texten. Hier beginnt Traba mit der Bemerkung, dass er das Glück habe,dass die letzten Dutzend Jahre“ seines aktiven Lebenszu einer Melange historischer Forschung und bürgerlichen Engagements geraten“ seien, die in einem gewissen Maß eine neue Qualität im öffentlichen Leben Polens nach 1989 geschaffen habe.In  dieser Hinsicht, so setzt Traba fort, gehörten seine Überlegungeneher zu dem Gebiet der ,angewandten Geschichte‘, die in den universitären Lehrverzeichnissen nicht verzeichnet“ sei. Er schildert aus seinen Berliner Kulturerlebnissen drei Beispielegeteilter Geschichte“ (darunter eine Aufführung von Volker Schlöndorffs FilmStreikDie Heldin von Danzig“) und zeigt auf, dass es hier nach einer Phase der Entdeckung desGedächtnisses der anderen“ Tendenzen für eine neue europäische Erinnerung gebe. Anschließend berichtet er von osteuropäischen Erfahrungen, wo eine Rückkehr zum traditionellen nationalen Gedächtnis stattfinde. Der Autor schlägt vor, dass einePolyphonie der Erinnerung“ gepflegt werden solle, undToleranz für die Erinnerung der ,anderen‘“ gelernt werden müsse.

Im mittleren KapitelGeschichte als Methode“ setzt sich Traba mit der angewandten Geschichte auseinander; er schreibt u. a. über die lieux de mémoire der deutsch-polnischen Beziehungen. Als dieser Text im Jahr 2006 entstand, steckte das Projekt derDeutsch-Polnischen Erinnerungsorte, des bislang größten deutsch-polnischen Projekts im Bereich der Geisteswissenschaften, noch in den Kinderschuhen. Inzwischen ist der erste BandParallelenerschienen. Anhand der Lektüre lässt sich die Genese dieses Vorhabens mit 130 Autoren sachkundig zurückverfolgen. Weiterhin finden sich zahlreiche kürzere Texte, die für polnische Interessierte an deutscher Geschichte besonders instruktiv sind, beispielsweise je ein Text über die Arbeiten von Jan Assmann und Golo Mann. Für Deutsche mag der Artikel über den Soziologen Stefan Czarnowski eine Entdeckung darstellen. In einem Beitrag:Die andere Seite der Erinnerung. Historische Erfahrungen und ihre Erinnerung in Ostmitteleuropa“ kommt Traba noch einmal auf die ihm so wichtige europäische Dimension zurück und schreibt, dass erim heutigen europäischen Dialog [] viel mehr positive Entwicklungen [sehe], aus der Sackgasse der konkurrierenden Erinnerung herauszukommen.“ Und er setzt fort:In der großen Diskussion um das kollektive Gedächtnis, in dessen Konstruktion und Erforschung, sehe ichtrotz allemdie Chance für neue Forschungsmethoden und für die Offenheit, dass Geschichte und Gedächtnis im öffentlichen Raum kreiert wird.

Im letzten KapitelGeschichte als Studium des Zufalls“ widmet sich Traba u. a. der historischen Landschaft des Ermlandes, das sich eben nicht als spezifisches Zentrum der östlichen Peripherie hervorgetan hat und von demheute nur Historiker und Geschichtsliebhaber“ etwas wissen. Der darauffolgende Text:Von der Suche nach dem ,tragbaren Vaterland. Die Polen im multikulturellen Berlin“ entstand zur vielbeachteten Ausstellung:My berlinczycy! Wir Berliner!“ von 2008, der auch im zweisprachigen Ausstellungskatalog nachzulesen ist. Traba beweist in seinen zahlreichen eher kurzen Texten ein hohes Maß an Sachkenntnis, Engagement in historischen und methodischen Fragen und darüber hinaus das Vermögen, seine Argumente schnörkellos und direkt zu vermitteln. Die Beiträge sind durchwegs durch Offenheit für die Argumente der anderen Seite gekennzeichnet, und so bleibt der Autor auch in diesem Band seinem früheren Motto treu, dass Geschichte ein Raum für den Dialog sein sollte.

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowtitz über: Robert Traba: Przeszłość w teraźniejszości. Polskie spory o historię na początku XXI wieku [Vergangenheit in der Gegenwart. Polnische Geschichtsdebatten am Anfang des 21. Jh.]. Poznań: Wydawn. Poznańskie, 2009. 325 S. ISBN: 978-83-7177-627-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Leiserowitz_Traba_Przeszlosc.html (Datum des Seitenbesuchs)

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