Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Lehnstaedt

 

Laurie R. Cohen: Smolensk under the Nazis. Everyday Life in Occupied Russia. Rochester, NY: University of Rochester Press, 2013. XIII, 364 S. ISBN: 978-1-58046-469-7.

Dieses Buch hat eine lange Geschichte: In ihrer Einleitung berichtet Cohen davon, wie sie 2000 in Smolensk Oral History-Interviews dafür durchgeführte. Allerdings beschränkt sich ihre Studie nicht nur auf diese Quellengattung, ganz im Gegenteil hat sie die einschlägigen Archive in Russland und Deutschland, und mithin Provenienzen von Opfern und Tätern, ausgewertet. Die Aussagen der insgesamt nur fünf Gesprächspartner werden trotzdem in den Mittelpunkt gerückt, obwohl die Frage nach der Repräsentativität dieser doch wenigen Interviews weder gestellt noch implizit beantwortet wird.

Unabhängig davon kann Cohen eine ganze Reihe von Aspekten abhandeln, die im weitesten Sinne der Alltags- und Sozialgeschichte zuzuordnen sind, etwa Arbeit, Essen, Wohnen, Schulbesuch und Kultur. Dies alles geschah in den Jahren zwischen 1941 und 1943 freilich in der Extremsituation der deutschen Besatzung. Deren Folgen werden mit den gewissermaßen ‚klassischen‘ Themen wie Deportationen zu Zwangsarbeit, Beraubung, dem Umgang mit Kriegsgefangenen und Holocaust ebenfalls untersucht, wobei stets mitgedacht wird, inwieweit das Geschehen in einer vormals stalinistischen Stadt eine Art von Normalität – und damit einen Gewöhnungseffekt – evozierte. Zudem interessiert sich Cohen nicht nur für die russischen und jüdischen Einwohner der Stadt, sondern auch für Minderheiten wie Polen oder Roma.

Diese Wahrnehmungsgeschichte ist ein Vorzug des Buches, der insbesondere bei der Analyse von deutscher Propaganda und deren Wirkung zum Tragen kommt. Gestützt auf die maßgebliche Studie von Babette Quinkert (Babette Quinkert: Propaganda und Terror in Weißrußland 1941–1944. Die deutsche „geistige“ Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen. Paderborn 2009) kann Cohen beispielsweise den Fund und die spätere propagandistische Inszenierung der vom NKVD ermordeten polnischen Offiziere im wenige Kilometer vor der Stadt gelegenen Katyn in diesen Rahmen einordnen: Demnach glaubten die von ihr interviewten Bewohner nicht, dass die Deutschen die Wahrheit über die Morde verbreiteten.

Im Generalkommissariat Weißruthenien, dem die Deutschen Smolensk zuschlugen, gab es außerdem Bestrebungen, die Bevölkerung für die Kollaboration zu gewinnen. Cohens Gesprächspartner nahmen die Zusammenarbeit mit den Okkupanten für ihre Stadt recht differenziert wahr und schätzten sie keinesfalls als Massenphänomen ein. Ihre retrospektive Beurteilung verkennt dabei aber nicht, dass insbesondere die Juden durchaus darunter zu leiden hatten. Viel bemerkenswerter als diese auch von der Forschung so bewertete Situation ist die Feststellung, dass den Interviewten die Partisanen, deren Mythos von der Sowjetunion nach dem Krieg so zelebriert wurde, als wenig zahlreich und schwach galten.

In vielerlei Hinsicht liefert die Studie das, was man von einer Stadtgeschichte erwartet. Andererseits bleibt der Eindruck, dass Themen oftmals nur der Vollständigkeit halber abgehandelt werden, denn einzelne Unterkapitel sind häufig nur zwei bis vier Seiten lang und die darin enthaltenen Informationen dürftig; nur selten ist so etwas wie eine ‚dichte Beschreibung‘ zu beobachten. Das gilt beispielsweise für die Geschlechterverhältnisse, deren Analyse das Buch mehr ankündigt als tatsächlich durchführt. Zwei Seiten zu Vergewaltigungen und später noch einmal 14 Seiten zu Sexualität einerseits und den Beziehungen zwischen Jung und Alt andererseits liefern kaum tief schürfende Erkenntnisse.

Das liegt zum großen Teil an der ungünstigen Quellenlage, denn Smolensk wurde durch den Krieg stark zerstört, und von den ursprünglich 156.000 Einwohnern vor dem Krieg erlebten nur 20.000 bis 40.000 die Befreiung im September 1943 auch in der Stadt; 87.000 Ostarbeiter aus der Region waren zu diesem Zeitpunkt noch im Deutschen Reich eingesetzt. Während schlicht zu wenig Menschen überhaupt Zeugnisse hinterlassen haben, hatte Smolensk für die beiden Kriegsgegner vor allem eine historisch-symbolische Bedeutung; es war allerdings kein bedeutender Industriestandort und rechtfertigte daher keine gesteigerte Aufmerksamkeit, die sich in einer größeren Quellenproduktion niedergeschlagen hätte. Cohens Rückgriff auf Oral History ist grundsätzlich sehr zu begrüßen, zumal diese gerade bei einer Mikrohistorie oft ergiebig ist, aber die wenigen Gesprächspartner schränken die Möglichkeiten deutlich ein. Zwar erlauben sie durch ihr konstantes Vorkommen im Buch eine personalisierte Geschichtsschreibung, aber eben keine substantielle Quellengrundlage, aus der tiefer geschöpft werden könnte.

Die sowjetischen Ermittlungsakten aus der Nachkriegszeit, die ebenfalls herangezogen werden, schaffen nur bedingt Abhilfe. Dafür bieten sie einen spannenden Einblick in die Zeit unmittelbar nach der Befreiung, in der es tendenziell weniger Bemühungen um Gerechtigkeit gab, als vielmehr eine Geschichtspolitik hin zu einer Re-Stalinisierung der Stadt. Raum und Zeit für die eigene Trauer blieb den Überlebenden nicht, stattdessen wollten die Sowjets die letzten Reserven für die noch nicht beendete Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus mobilisieren. Die justizielle und emotionelle Aufarbeitung von deren Herrschaft wurde daher zugunsten des Versprechens einer strahlenden kommunistischen Zukunft weitgehend unterlassen.

Doch trotz eines übergreifenden Blicks auf Smolensk und sein Einwohner bleibt am Ende der Eindruck, vor allem etwas über die Ereignisgeschichte gelernt, aber nur wenige Analysen gelesen zu haben, die inhaltlich oder argumentativ wirklich Neues bieten. Unklar ist vor allem, inwieweit Smolensk gegenüber anderen Städten in der Sowjetunion besonders bzw. typisch war. Die über die Zäsuren von 1939/1941/1945 hinausweisenden Studien etwa von Felix Ackermann zu Grodno, von Christoph Mick zu Lemberg oder von Jörg Ganzenmüller zum belagerten Leningrad (Felix Ackermann: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt 1919–1991. Wiesbaden 2010; Christoph Mick: Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt. Lemberg 1914–1947. Wiesbaden 2010; Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern Paderborn 2007) hätten zum Vergleich eingeladen und die Perspektive deutlich erweitert, denn sie lieferten in den letzten Jahren wichtige Erkenntnisse zur multiethnischen Historie osteuropäischer Städte im „Zeitalter der Extreme“. Leider werden sie hier nicht rezipiert. So ist Cohens Buch wohl vor allem für diejenigen von Interesse, die selbst vergleichend zur Stadtgeschichte forschen oder sich speziell für Smolensk interessieren.

Stephan Lehnstaedt, Warschau

Zitierweise: Stephan Lehnstaedt über: Laurie R. Cohen: Smolensk under the Nazis. Everyday Life in Occupied Russia. Rochester, NY: University of Rochester Press, 2013. XIII, 364 S. ISBN: 978-1-58046-469-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehnstaedt_Cohen_Smolensk_under_the_Nazis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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