Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Robert Kindler
Viktor V. Kondrašin: Golod 1932–1933 godov. Tragedija rossijskoj derevni [Hunger 1932–1933. Die Tragödie des russländischen Dorfes]. Moskva: Rosspėn; Fond Pervogo Prezidenta Rossii B. N. El’cina, 2008. 519 S. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-0987-4.
Golod v SSSR 1929–1934 gg – Famine in the USSR 1929–1934. Novye Dokumenty – New Documents. Sost. O. O. Antipova. Moskva: Federal’noe Archivnoe Agenstvo Rossii, 2009. CD-ROM-Version. ISBN: –.
Das Imperium schlägt zurück! Dieser Eindruck entsteht sowohl bei der Lektüre der ersten Seiten von Viktor Kondrašins Buch als auch beim Lesen des gleichfalls von ihm verfassten einleitenden Textes der CD-ROM. Beide Publikationen lassen sich als ‚russische Antwort‘ auf die immer vehementer vorgetragenen Vorwürfe aus der Ukraine deuten, die Hungersnot der Jahre 1932/33 sei ein von Stalin verantworteter und bewusst herbeigeführter Genozid an der ukrainischen Nation gewesen. Die Monographie ist in der renommierten Reihe „Istorija Stalinizma“ erschienen, und die Quellenedition richtet sich explizit an ein nichtrussisches Publikum; alle Dokumente wurden ins Englische übersetzt. Kondrašin, ein ebenso profilierter wie etablierter Experte für die Geschichte der russischen Bauern, weist die Genozidthese entschieden und mit aller Deutlichkeit zurück: Es habe sich bei der Hungersnot um eine gesamtsowjetische Tragödie gehandelt. Die Bolševiki mit Stalin an der Spitze waren für den Ausbruch der Tragödie verantwortlich, weil sie die Politik der gewaltsamen Kollektivierung und unablässigen Getreidebeschaffungen gegen alle Widerstände durchzusetzen suchten. Die grundlegenden Abläufe und repressiven Mechanismen seien dabei in allen Regionen gleich gewesen. Deshalb litten die Menschen auch in fast allen Regionen des Vielvölkerstaates an Hunger; nicht nur in der Ukraine. In Relation zur Gesamtbevölkerung sei die Zahl der ukrainischen Hungertoten nicht höher gewesen als in ähnlich stark betroffenen russischen Regionen. Bedauerlicherweise würde die Erinnerung an die Hungersnot gegenwärtig durch die Ukraine politisiert. Dabei, so setzt Kondrašin mit leicht pathetischem Unterton hinzu, sollten doch diese tragischen Ereignisse die „Brudervölker“ der Russen und Ukrainer nicht trennen, sondern vereinen.
Es gleichen sich nicht nur diese (keineswegs neuen) Thesen beider Publikationen, sondern beide Werke ähneln sich auch hinsichtlich ihres Aufbaus: Es werden jeweils Ursachen, Verlauf und Ende der Hungersnot diskutiert bzw. dokumentiert. Auf der CD-ROM, die als eine Art Vorschau auf eine bald erscheinende dreibändige Quellenedition zum selben Thema zu begreifen ist, haben die Herausgeber versucht, die 107 eingescannten Dokumente so zu ordnen, dass alle vom Hunger betroffenen Regionen der UdSSR repräsentiert sind. An der Kompilation beteiligten sich die wichtigsten russischen Archive, darunter auch das Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation und dasjenige des FSB. Auch wenn einige Dokumente bislang unzugänglich waren, enthält die CD-ROM für Spezialisten keine großen Überraschungen. Doch darum geht es hier trotz aller anderslautenden Beteuerungen der Herausgeber auch gar nicht. Die Quellen sollen vielmehr eine Geschichte erzählen, an deren Anfang und Ende Stalin steht; als Auslöser der pansowjetischen Hungerkrise und als derjenige, der ihr ein Ende setzte. Doch eine Geschichte muss man auch lesen können. Deshalb darf auch eine Publikation auf CD-ROM gewisse Mindeststandards nicht unterschreiten. Natürlich erwartet niemand, dass eine Quellenedition neue Maßstäbe in Sachen Bedienerfreundlichkeit setzt. Aber wenn eine CD-ROM in dieser Hinsicht derart weit hinter den heutzutage üblichen Standards zurückbleibt wie „Famine in the USSR“, ist das ein Ärgernis. Auch wäre es hilfreich gewesen, alle Texte von einem englischen Muttersprachler redigieren zu lassen.
Viktor Kondrašin geht in seiner Studie immer wieder auf die gesamtsowjetische Dimension der Ereignisse ein, konzentriert sich aber vor allem auf die Situation an der Wolga, dem südlichen Ural und dem Don-Gebiet. Weil der Autor es auf sich genommen hat, in mehr als sechzig Archiven regionaler Standesämter des Wolgagebiets die Sterberegister durchzusehen, kann er für diese Region eine detaillierte Topographie des Hungers nachzeichnen. Er kommt zu dem Schluss, dass sich die Todesraten hier nicht von jenen unterscheiden, die für die Ukraine ermittelt wurden. Die relativ größte Zahl von Todesopfern habe es jedoch in Kasachstan gegeben. Für die gesamte Sowjetunion hält der Autor eine Zahl von fünf bis sieben Millionen Hungertoten für wahrscheinlich.
Wie erklärt Kondrašin, weshalb der Hunger endete? Neben den Landstücken, die die Kolchosbauern in Eigenregie bearbeiten durften, führt er noch weitere Faktoren ins Feld, die aus seiner Perspektive besonders wichtig waren: Mit der Gründung der Politabteilungen bei den Maschinen-Traktoren-Stationen zu Beginn des Jahres 1933 sei stärkere Kontrolle über die Kolchosen ausgeübt worden, wodurch Produktivität und Arbeitsdisziplin gestiegen seien. Kondrašin zeichnet hier das Bild zunehmend effizienter werdender Organisationen, das so gar nicht zur Darstellung verhungernder und fliehender Bauern im selben Zeitraum passt. Auch ist unklar, wie viel des vom Moskauer Zentrum als Saatgut und Lebensmittelhilfe bereitgestellten Getreides seine Adressaten erreichte. Es ist doch sehr fragwürdig, die in den Beschlüssen des Politbüros genannten Planziffern als tatsächlich gelieferte Menge anzunehmen. Liest man die auf der CD-ROM enthaltenen Dokumente zu diesem Thema, so entsteht der Eindruck, das Politbüro habe im Jahr 1933 unablässig über Unterstützungslieferungen in die verschiedenen Regionen der UdSSR – vor allem aber in die Ukraine – befunden.
In gewisser Hinsicht ist „Golod 1932‒1933 godov“ auch ein Buch der verpassten Chancen. Denn wie bereits angedeutet, strukturiert der Verfasser seine ebenso detaillierte wie informative Erzählung anhand von in Moskau getroffenen Entscheidungen und folgt damit über weite Strecken der bewährten Praxis, Geschichte ‚von oben‘ zu schreiben. Dagegen ist – abgesehen vom Eindruck, viel Bekanntes wieder zu lesen – eigentlich nichts einzuwenden. Aber Kondrašin ist für seine Untersuchung ins Volk gegangen und hat hunderte betagte Menschen nach ihren Erinnerungen an die Zwangskollektivierung und die daran anschließenden Hungerjahre befragt. Doch die Resultate dieser Bemühungen enthält er seinen Lesern weitgehend vor. Die Erlebnisse der Zeitzeugen fanden nur sparsam dosiert Eingang in den Text und dienen oft nur der Illustration dessen, was Kondrašin in anderen Quellen gefunden hat. Und dort, wo die Zeitzeugen ihrem Ruf als ‚größten Feinden des Historikers‘ gerecht werden und anderer Meinung sind als er, schreckt er nicht vor deutlichen Worten zurück. So erklärten etwa die meisten der Befragten, keine Unterstützung durch den Staat in Form von Lebensmitteln erhalten zu haben. Kondrašin meint dazu, dass „die Zeitzeugen den Umstand nicht anerkennen wollen, dass ihnen von der sowjetischen Regierung Lebensmittelhilfe geleistet worden ist. Eine solche Bewertung ist unnötig emotional […]“ (S. 203). Derartige Ausfälle sind umso bedauerlicher, als einige Passagen, in denen er sich ernsthaft auf die lokale Dimension einlässt, zeigen, was für ein enormes Potenzial seine Quellen offenbar bergen und was für eine Geschichte der Hungersnot er auch hätte schreiben können. Eine Geschichte, die aus der Perspektive der Bauern erzählt, wie sich die Verhältnisse radikalisierten, die Repressionen begannen, der dramatische Mangel das Überleben in einen Kampf aller gegen alle verwandelte und was für dramatische Konsequenzen die Hungersnot für die Landbevölkerung hatte und letztlich noch immer hat. All dies führt Viktor Kondrašin in einer Miniatur über das Dorf Loch im Gebiet Saratov vor, die zu den eindrücklichsten Passagen des Buches überhaupt gehört (S. 311‒ 317).
Zitierweise: Robert Kindler über: Viktor V. Kondrašin Golod 1932–1933 godov. Tragedija rossijskoj derevni [Hunger 1932–1933. Die Tragödie des russländischen Dorfes]. Moskva: Rosspėn; Fond Pervogo Prezidenta Rossii B. N. El’cina, 2008. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-0987-4; Golod v SSSR 1929–1934 gg – Famine in the USSR 1929–1934. Novye Dokumenty – New Documents. Sost. O. O. Antipova. Moskva: Federal’noe Archivnoe Agenstvo Rossii, 2009. CD-ROM-Version. ISBN: –., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_SR_Kondrasin_Golod_v_SSSR.html (Datum des Seitenbesuchs)
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