Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Nikolaus Katzer
Ljudmila G. Novikova: Provincial’naja „kontrrevoljucija“. Beloe dviženie i Graždanskaja vojna na russkom Severe, 1917–1920. [„Konterrevolution“ in der Provinz. Die Bewegung der Weißen und der Bürgerkrieg im russischen Norden 1917–1920]. Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2011. 377 S., 2 Ktn., 20 Abb. = Historica Rossica. ISBN: 978-5-86793-897-0.
Inhaltsverzeichnis:
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Erst die Regionalgeschichte hat die Vorstellung davon, was der Bürgerkrieg für die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert bedeutete, erweitert, differenziert und vertieft. Die seit Ende der 1980er Jahre erschienenen Studien haben indessen nur noch wenig gemeinsam mit der Tradition der sowjetischen Historiographie, den Sieg der Bol’ševiki und der Roten Armee als eine Kette unweigerlicher Erfolge in den Territorien des untergegangenen Zarenreiches darzustellen: Das moderne Sammeln der imperialen Lande wurde als Meta-Erzählung mit Wiedererkennungseffekt geboten, deren zentralen Bauelemente um einige regionale Spezifika und gelegentlich auch ein wenig Lokalkolorit angereichert waren.
Ljudmila Novikova kennt dieses Narrativ – und bricht mit ihm. Ihr Werk ist aus einer Dissertation an der Lomonosov-Universität Moskau hervorgegangen. Sie berichtet einleitend von biographisch-zeithistorischen Kontexten, die den Anstoß gaben, sich dem Thema in dieser Weise zu widmen. Sie wuchs mit populären Bürgerkriegsliedern von Rotarmisten auf, die sie gemeinsam mit dem Großvater sang. Als sie Ende der 1980er Jahre Artikel und Aufsätze zur Hand bekam, die vom vertrauten Muster abwichen, begann sie nachzufragen und nachzuforschen. Die Gegner der Bol’ševiki bekamen ein Gesicht und eine Geschichte, das Leben der Menschen jenseits und hinter den Fronten des Bürgerkriegs Kontur und Gewicht.
Im Vergleich mit dem Süden und Osten galt der „Russische Norden“ in der Forschung stets als nachrangiger Schauplatz. Die großen Entscheidungsschlachten wurden am Ural und in Sibirien, in der Ukraine und vor Moskau, bei Petrograd und auf der Krim geschlagen. Die misslungene Vereinigung mit der sibirischen Front verstärkte die Abgeschiedenheit von Archangel’sk, Murmansk und Vologda. Hauptanliegen der Verfasserin ist es, die konstruktiven Ansätze einer nach-revolutionären, nicht-bolschewistischen Regierung und Landesverwaltung unter den besonderen geographischen, ökonomischen, administrativen und militärischen Bedingungen zu untersuchen. Ihre Frage nach den politischen Alternativen leitet sie aus dem engen Zusammenhang zwischen Erstem Weltkrieg und Bürgerkrieg ab und setzt damit für die russische Historiographie einen wichtigen Akzent.
Frau Novikova holt in den sieben Hauptkapiteln ihrer Arbeit weit aus. Sie rekonstruiert das Gouvernement Archangel’sk zu Beginn des 20. Jahrhunderts als historischen Raum. Am Vorabend des Weltkrieges dynamisierten sich die spezifischen Formen von Produktion und Gewerbe. Da die Region nur wenige industrielle Inseln besaß, bestimmten neben Bauern vor allem Arbeiter in der Wald- und Holzindustrie sowie Händler und kleine Gewerbetreibende die Ökonomie. Der Weltkrieg wirbelte die Sozialstruktur gründlich durcheinander. Zu den Verbannten kamen jetzt verlagerte Garnisonen, Scharen auswärtiger Bauarbeiter und nicht zuletzt Kriegsgefangene. Die Revolution im Zentrum des Reiches machte sich an der Peripherie zuerst als Versorgungskrise bemerkbar. Eine Besonderheit war, dass die Bol’ševiki auch nach dem Oktober 1917 nicht die örtliche Bühne beherrschten. Im Bürgerkrieg wurde daher um jene Errungenschaften gekämpft, die sich dem Sturz der Monarchie verdankten: Selbstverwaltung, freie Wahlen, Duma, sozialen Ausgleich hatte die Bevölkerung ohne die Bol’ševiki erkämpft und verteidigte sie nun gegen diese. Perspektivisch sollte ein neuer Staat mit einer föderalen Ordnung entstehen. Auf die tragenden Kräfte trifft die Bezeichnung „weiße Bewegung“ nur sehr eingeschränkt zu. Hier wirkten gemäßigte Sozialisten, Liberale und Konservative zusammen. Monarchisten waren in dieser regionalen Elite kaum auszumachen. Erst die Zuspitzung des Bürgerkriegs reduzierte die feinen und die größeren Unterschiede auf einen abstrakten „Antibolschewismus“. Ihn mit „Konterrevolution“ gleichzusetzen, verfehlte das breite programmatische Fundament. Die Autorin verwendet viel Mühe darauf, den Epochenbruch als offene Geschichte zu erzählen.
Gegen eine Kernstaatsbildung im Norden sprach Vieles. Aussichtsreich waren die Anfänge der antibolschewistischen Bewegung und die erste Regierungsperiode. Je länger aber die höchst ambivalente Intervention der Alliierten andauerte, desto mehr wurde sie zur Belastung. Was die Regierung unter den gegebenen Umständen politisch zu leisten vermochte, zeugte von einem stets gefährdeten, aber doch ernsthaften Ordnungsversuch. Seine Stabilität hing maßgeblich von der Loyalität der heterogenen, einheimischen und ‚zugereisten‘ Bevölkerung ab. Der regionale „Volkskrieg“ zwischen bäuerlichen Partisanengruppen und anderen Freischärlern folgte traditionell verankerten Identitäten und Regionalinteressen. Er bestand aus zahlreichen kleinen Kriegen innerhalb des ‚großen‘ Bürgerkriegs. Sie einzudämmen oder in die militärische Front gegen die Rote Armee zu integrieren, gehörte zu den Hauptaufgaben der Administration. Bauern war nur schwer das Bekenntnis zu einer überregionalen ‚Staatlichkeit‘ oder zu einem russländischen ‚Patriotismus‘ abzuringen. Wer die Mobilisierung für die „rote“ Armee ablehnte, empfand die Werbung für eine „weiße“ Armee kaum attraktiver. Diese Verweigerung war Grund genug, in der Emigration vom „Verrat“ der Bauern oder auch der Engländer zu raunen. Sie hätten den Etatisten (gosudarstvenniki) und Patrioten (otečestvenniki) einen ‚Dolchstoß‘ versetzt.
Je länger die militärische Entscheidung an den Hauptfronten auf sich warten ließ, desto mehr verstärkten sich die anglophoben Reflexe unter der breiten Masse der Bevölkerung wie bei den Eliten. Der Zusammenbruch der Regierung zeichnete sich schon vor dem Abzug der Interventionstruppen ab, der damit ein fatales Kapitel moderner Interventionsgeschichte beendete. Gleichwohl erscheint aus regionaler Perspektive die nachfolgende Sowjetisierung nicht zwangsläufig; nach dem Sommer 1919 war sie aber nicht mehr zu verhindern. Welche Ziele die Alliierten nach dem Ende des Weltkriegs in Russland tatsächlich verfolgten, ist eine Frage, die Historiker weiterhin beschäftigen dürfte.
Frau Novikova fügt der russischen Bürgerkriegsforschung ein grundlegendes Werk bei. Zugleich bereichert sie die internationale Forschung zur Weltkrise zwischen 1914 und 1921. Sie hat in zahlreichen in- und ausländischen Archiven recherchiert, bedient sich einer klaren Sprache und setzt frische Akzente. Gerade weil der Norden Russlands kein Muster für das gesamte Territorium des alten Imperiums sein konnte, bietet die unaufgeregte und dichte Rekapitulation des Geschehens an der Peripherie bedenkenswerte Erkenntnisse über Russlands Weg ins 20. Jahrhundert. Die politischen Widersprüche der „weißen Sache“ traten vor Ort besonders scharf zutage. „Provinz“ meint hier nicht Rückständigkeit, sondern die Lage der Dinge im Lande, wie sie war. Kompetenz zu ihrer Regelung war kein Privileg der Hauptstädte oder der urbanen Eliten. Sie zeigte sich in der Praxis der Behörden gegenüber den verschiedenen sozialen Gruppen, bei der Versorgung der Bevölkerung, im Arbeitsalltag und in der Fähigkeit, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten oder die Grenzen des Territoriums im kriegerischen ‚Nach-Krieg‘ zu sichern. Ein Scheitern an diesen Aufgaben war sehr viel wahrscheinlicher als ein Erfolg.
Zitierweise: Nikolaus Katzer über: Ljudmila G. Novikova: Provincial’naja „kontrrevoljucija“. Beloe dviženie i Graždanskaja vojna na russkom Severe, 1917–1920. [„Konterrevolution“ in der Provinz. Die Bewegung der Weißen und der Bürgerkrieg im russischen Norden 1917–1920]. Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2011. 377 S., 2 Ktn., 20 Abb. = Historica Rossica. ISBN: 978-5-86793-897-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Katzer_Novikova_Provincial'naja_kontrrevoljucija.html (Datum des Seitenbesuchs)
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